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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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undurchsichtiger Dämpfe wirbelten über den Wassern, dahinter erkannte
er die schwach glühenden Umrisse einer riesigen Sonne. Tiefes Dröhnen ging von
dieser Sonne aus, düsterer Schein kam in pulsierendem Rhythmus durch die
Schwaden und erhellte sekundenlang die Kalkklippen.
    Das Wasser reflektierte die immer von
neuem aufblitzenden Strahlen, es ließ Myriaden phosphoreszierender Quallen
aufleuchten, die in dichten Scharen wie ertrunkene Heiligenscheine im Wasser schwebten.
Schlangen und Aale ringelten sich zwischen ihnen, peitschten mit ihren
hektischen Bewegungen das Wasser auf, daß es zu sprudeln und zu kochen schien.
    Das Dröhnen der großen Sonne kam
näher, erfüllte den ganzen Himmelsraum; die dichte Vegetation auf den Klippen
wurde abrupt zurückgerissen, darunter erschienen die schwarzgrauen Köpfe
riesiger Trias-Eidechsen. Sie watschelten zum Klippenrand vor und brüllten im
Chor die Sonne an, der Lärm verstärkte sich so sehr, daß er mit dem
vulkanischen Dröhnen der Sonnenflammen eins wurde. Kerans spürte den gewaltigen
Lockruf der heulenden Reptilien wie seinen eigenen Puls, er stieg aufs Wasser
hinaus, das nichts als eine Erweiterung seines Blutstroms zu sein schien. Das
dumpfe Dröhnen wurde noch stärker, er spürte wie seine Zellen sich auflösten,
wie er eins wurde mit dem ihn umgebenden Medium, wie er schwamm, sich über das
schwarze, pulsierende Wasser verbreitete ...
    Er erwachte in der erstickenden
Metallkabine, sein Kopf zerbarst fast, alles Mark schien aus ihm zu fließen –
er war zu erschöpft, auch nur die Augen zu öffnen. Als er sich endlich
aufgesetzt und sein Gesicht mit lauwarmem Wasser aus dem Krug bespritzt hatte,
sah er immer noch die riesige Flammenscheibe vor sich, hörte weiter das
unheimliche Dröhnen. Bei näherem Hinhorchen entdeckte er, daß der Pulsschlag
dieser Sonne der seines eigenen Herzens war, aber irgendwie wurden die Töne
überhöht, verstärkt, so daß sie gerade oberhalb der Gehörschwelle blieben und
von den metallenen Wänden und der Decke wie das Gewisper einer Unterströmung am
Rumpf eines U-Bootes erklangen.
     
    Auch draußen verfolgte ihn das
Geräusch. Es war jetzt sechs Uhr früh. Die Teststation zurrte leise an ihrer
Vertäuung, die staubigen Reagenzgläser und Behälter in der Korridorecke
leuchteten in der ersten Vordämmerung geisterhaft auf. Kerans blieb mehrmals
stehen und versuchte die ihn jagenden Echos abzuschütteln – wer waren diese
neuen Verfolger? Sein Unterbewußtsein wurde mehr und mehr zum Sammelplatz von
Phobien und fixen Ideen, die seine ohnehin schon schwer angeschlagene Psyche
belagerten wie eine Horde Telepathen. Früher oder später würden sie unruhig
werden und einander zu bekämpfen anfangen, Seele gegen Geist, Ich gegen Es ...
    Und dann fiel ihm ein, daß Beatrice
Dahl den gleichen Traum hatte. Er riß sich zusammen, ging auf Deck und blickte
über das unbewegliche Wasser zu dem fernen Wohnturm auf der anderen Seite der
Lagune. Sollte er sich eines der Boote ausleihen, die am Landesteg vertäut
lagen, und hinüberfahren? Jetzt, da er einen ihrer Träume selbst erlebt hatte,
war ihm klar, wie mutig und gefaßt sie sich erwiesen hatte. Sie wollte kein
Mitgefühl.
    Dabei wurde ihm jetzt bewußt, daß er
ihr gar kein Mitleid hatte zeigen wollen; wann immer sie von ihren Alpträumen
anfing, hatte er sie so bald wie möglich unterbrochen und nie irgendwelche
Behandlung oder Mittel angeboten. Auch den geheimnisvollen Bemerkungen Bodkins
und Riggs' über Träume und deren Gefahren war er nie nachgegangen, als hätte er
gewußt, daß er bald daran teilhaben und sie als unvermeidlichen Bestandteil
seines Lebens akzeptieren würde. Hing es mit diesem allgemein nicht gezeigten
Mitleid zusammen, daß sie diese Träume so ungern miteinander besprachen?
    Bodkin saß in der Küche am Tisch und
trank gemütlich Kaffee; im angeschlagenen Topf auf dem Herd brodelte noch etwas
von der Brühe. Unauffällig musterte er Kerans, der sich zu ihm gesetzt hatte
und sich mit fieberheißer Hand die Stirn rieb.
    »Sie träumen jetzt also auch, Robert.
Die Fata Morgana der letzten Lagune. Sie sehen müde aus. War's sehr schlimm?«
    Kerans lachte gequält. »Wollen Sie
mich schrecken, Alan? Ob es sehr schlimm war, weiß ich nicht, mir kam es
jedenfalls schlimm genug vor. Im Ritz gibt's keine Alpträume.« Er hatte sich
auch vom Kaffee genommen und schlürfte nachdenklich ein paar Schluck. »Das hat
also Riggs gemeint. Wie viele von seinen Leuten

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