Kartiks Schicksal
gefolgt. Sie hatte sich heimlich mit jemandem getroffen.«
»Mit wem?«, fragt Ann.
Ich blicke hinter mich, aber Miss McChennmine ist in ein Gespräch mit Mademoiselle LeFarge und Inspektor Kent vertieft. »Ich konnte nicht sehen, wer es war. Vielleicht war es jemand von den Rakschana oder vom Orden«, sage ich und berichte ihnen alles, was ich gehört habe.
Auf den Straßen herrscht ein Chaos von Menschen und Fahrzeugen, Nebel und Lärm. Laut Veranstaltungsprogramm würden um fünf Uhr Droschken vorfahren, aber es sind viel zu viele Leute für viel zu wenige Droschken und wir werden eine Ewigkeit warten müssen.
»Na schön«, sagt Inspektor Kent. »Dann wollen wir mal sehen, was der Ordnungshüter erreichen kann.«
Er marschiert zielstrebig auf den Mann zu, der die Wagen dirigiert.
»Es tut mir leid, Sie so im Stich zu lassen, Mademoiselle LeFarge«, sagt Miss McChennmine. »Sind Sie sicher, dass Sie mit den Mädchen allein zurechtkommen werden?«
»Aber ja«, sagt Mademoiselle LeFarge und tätschelt Miss McChennmines Hände.
»Miss McChennmine, verlassen Sie uns?«, fragt Felicity neugierig.
»Ja, ich bin mit einer Freundin zum Abendessen verabredet«, antwortet unsere Lehrerin.
»Wer ist diese Freundin?«, hakt Felicity nach, alle Gebote des Anstands außer Acht lassend.
»Miss Worthington, was fällt Ihnen ein. Das geht Sie absolut nichts an«, rügt Mademoiselle LeFarge und Felicity sagt nichts mehr. Miss McChennmine reagiert überhaupt nicht auf diese unverschämte Frage.
»Ich verlasse mich darauf, dass Sie Mademoiselle LeFarge keine Probleme bereiten werden, meine Damen«, sagt sie. »Morgen sehe ich Sie wieder.«
»Ich wusste nicht, dass Miss McChennmine irgendwelche Freundinnen hat«, murmelt Ann, sobald Miss McChennmine uns verlassen hat.
Ich auch nicht, aber Miss McChennmine steckt heute Nachmittag voller Überraschungen.
Der Londoner Nebel hüllt uns in sein dichtes Grau. Gestalten tauchen zuerst wie Schemen auf, nebelhaft, bevor sie feste Form annehmen – Zylinder, Mäntel, Damenhüte. Die Wirkung ist ähnlich wie die der Geistererscheinungen aus der Zauberlaterne.
Ann, Felicity und Mademoiselle LeFarge werden vom Anblick eines Drehorgelspielers abgelenkt.
Dr. Van Ripple taucht, an seinem Stock humpelnd, aus dem Nebel auf. Er stößt mit einem Herrn zusammen. »Bitte vielmals um Verzeihung, Sir. Es liegt an diesem Bein und an der Feuchtigkeit.«
»Nichts passiert«, sagt der Herr. Als er Dr. Van Ripple aufhilft, sehe ich, wie der Zauberer in die Tasche des Mannes greift und ihn um seine goldene Uhr erleichtert.
Meisterillusionist, in der Tat. Meistertaschendieb wäre wohl zutreffender.
»Verzeihung, bitte um Verzeihung«, sagt er und scheucht elegante Damen und Herren zur Seite. Ich schneide ihm den Weg ab. Er erschrickt, als er mich erkennt.
»Hat Ihnen die Schau gefallen, meine Liebe?«
»Welche Schau meinen Sie, Sir?«, sage ich zuckersüß. »Die der Wolfson-Brüder? Oder die, deren Zeugin ich soeben geworden bin, als Sie einem Mann seine Taschenuhr gestohlen haben?«
»Ein bedauerliches Versehen«, sagt Dr. Van Ripple mit angstgeweiteten Augen.
»Ich werde es nicht sagen«, versichere ich ihm. »Aber ich verlange eine Gegenleistung. Als Mademoiselle LeFarge Spence erwähnte, sind Sie blass geworden. Warum?«
»Wirklich, ich muss gehen …«
»Soll ich die Polizei rufen?«
Dr. Van Ripple blickt finster drein. »Meine Assistentin besuchte die Spence-Akademie.«
»Sie war eine Schülerin in Spence?«
»Das hat sie gesagt.«
Ich forsche in seinem Gesicht. »Wie weiß ich, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«
Er legt seine Hand aufs Herz. »Bei meiner Ehre als Gentleman …«
Ich unterbreche ihn. »Ich glaube, Ihre Ehre als Gentleman ist äußerst fragwürdig, Sir.«
Er hält meinem Blick stand. »Dann bei meiner Ehre als Zauberer. Ich schwöre Ihnen, das ist die Wahrheit.«
Unsere Droschke ist da. »Hierher, Mädchen!«, ruft Mademoiselle LeFarge.
»Sie sollten sie nicht warten lassen«, sagt Dr. Van Ripple und versenkt die gestohlene Uhr in seine Tasche.
Kann ich dem Wort eines Diebes glauben?
»Dr. Van Ripple«, beginne ich, aber er winkt mich mit seinem Stock fort. »Bitte, Sir, ich möchte nur ihren Namen wissen, nicht mehr, und dann lasse ich Sie in Frieden. Ich verspreche es.«
Er seufzt, als er sieht, dass ich nicht aufgebe. »Also gut. Ihr Name war Mina. Miss Wilhelmina Wyatt.«
*
Mina. Miss Wilhelmina Wyatt, Autorin des Buches Eine Geschichte der
Weitere Kostenlose Bücher