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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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erwidert die Geste mit Respekt.
    »Dies sind die Höhlen der Seufzer«, sage ich. Wir kommen an der Felszeichnung der zwei Hände vorbei, die sich in einem Kreis umschließen. Kartik bleibt davor stehen.
    »Ich kenne das. Es ist ein Zeichen der Rakschana.«
    »Es gehört auch zum Orden«, sage ich.
    »Wissen Sie, was es bedeutet?«, fragt er und geht näher heran.
    Ich nicke errötend. »Es ist das Symbol der Liebe.«
    Er lächelt. »Ja. Jetzt erinnere ich mich. Die Hände innerhalb eines Kreises. Sehen Sie? Die Hände sind beschützt durch den Kreis, das Symbol der Ewigkeit.«
    »Ewigkeit?«
    »Weil sich nicht sagen lässt, wo er anfängt und wo er aufhört, und es spielt auch keine Rolle.«
    Er fährt die Zeichnung mit seinen Fingern nach.
    Ich räuspere mich schwach. »Es heißt, jeder kann die Träume des anderen sehen, wenn man die Hände in den Kreis legt.«
    »Tatsächlich?« Er lässt seine Hand knapp außerhalb liegen.
    »Ja«, sage ich.
    Der Wind bläst durch die Höhlen und sie seufzen. Die Steine sprechen. Dies ist ein Ort der Träume für jene, die sehen wollen. Legt eure Hände in den Kreis und träumt.
    Ich lege eine Hand in den Kreis und warte. Er sieht mich nicht an und rührt sich nicht. Er wird es nicht tun. Ich kenne ihn.
    Er schiebt seine Hand hinein, neben meine eigene. Unsere Finger und Daumen bewegen sich aufeinander zu, jedoch ohne sich ganz zu berühren. Unsere Hände – zwei Länder, getrennt durch den schmalsten aller Ozeane. Und dann stoßen seine Finger an meine. Die Felsen verblassen. Ein helles weißes Licht zwingt mich, meine Augen zu schließen. Mein Körper fällt von mir ab und ich bin inmitten eines Traums.
    *
    An meinen Armen glänzen goldene Reifen, die das Licht einfangen. Meine Hände und Füße sind mit kunstvollen Mustern bemalt, wie die einer Braut. Ich trage einen Sari vom dunklen Purpur einer Orchidee. Wenn ich mich bewege, wechseln die Falten des Stoffes ihre Farbe, sie schimmern von Orange zu Rot, von tiefem Blau zu Silber.
    Eine Feier findet statt. Mädchen in leuchtend gelben Saris tanzen barfüßig auf einer Decke aus Lotusblumen. Freundlich lächelnd tauchen sie ihre Hände in große Tonschalen und schöpfen Rosenblätter aus einem Gefäß, die sie hoch in die Luft werfen. Der bunte Regen fällt langsam und die Blütenblätter lassen sich auf meinem Haar und auf meinen nackten Armen nieder. Der Duft erinnert mich an meine Mutter, aber ich bin nicht traurig. Es ist ein zu freudiger Tag.
    Die Mädchen bahnen mir einen Weg. Sie laufen vor mir her und streuen dabei Blumen, bis der Boden mit roten und weißen Blüten übersät ist. Ich folge ihnen einem blauen Himmel entgegen. Ich bin am Eingang eines mächtigen steinernen Tempels aus alter Zeit. Über mir sitzt Shiva, der Gott der Zerstörung und der Wiedergeburt, in Meditation versunken, während sein drittes Auge alles sieht. Unter mir liegen vielleicht einhundert Stufen. Ich mache einen ersten Schritt und alles verschwindet – der Tempel, die Mädchen, die Blumen, alles. Ich bin allein auf Wüstensand, der einzige Farbklecks weit und breit. Ringsum ist nichts als Himmel. Stunden sind wie Sekunden; Sekunden dauern Stunden, denn die Zeit ist ein Traum.
    Ein warmer Wind streicht vorüber, die Sandkörner streifen sanft meine Wangen. Und dann sehe ich ihn. Er ist nicht mehr als ein Fleck, der von ferne auf mich zukommt, aber ich weiß, dass er es ist, und plötzlich steht er vor mir. Er reitet auf einem geschmückten Pferd und seine Kleider sind schwarz und vornehm. Eine Girlande hängt um seinen Hals. In der Mitte seiner Stirn ist ein rotes Zeichen, wie das eines indischen Bräutigams.
    »Hallo«, sagt er mit einem Lächeln, das heller strahlt als die Sonne. Er streckt mir eine Hand entgegen; ich nehme sie; und die Welt zerfällt wieder. Wir stehen in einem duftenden Garten von Lotusblüten, die so groß wie Betten sind.
    »Wo sind wir?«, frage ich. Meine Stimme klingt seltsam in meinen Ohren.
    »Wir sind da«, sagt er, als sei es die Antwort auf alles und irgendwie stimmt das auch.
    Er nimmt sein Messer und zieht in der Erde einen Kreis um mich.
    »Was tust du da?«, frage ich.
    »Dieser Kreis symbolisiert die Vereinigung unserer Seelen«, antwortet er. Er zieht sieben Kreise um mich und tritt in den Umriss des siebenten. Wir stehen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er drückt seine Handflächen gegen meine.
    Ich weiß nicht, ob ich träume.
    Seine Hand schmiegt sich um meinen Nacken und er zieht mich sanft

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