Kartiks Schicksal
hören Sie auf!«
Er kommt wieder zu sich und lässt mich los. »Es tut mir leid. Ich habe diese Träume.« Er atmet schwer. »So furchtbare Träume.«
»Was für Träume?« Ich spüre immer noch den Abdruck seiner Hände auf meinen Armen.
Er fährt sich mit zitternden Fingern durchs Haar. »Ich sehe Amar auf einem weißen Pferd, aber er ist nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Er ist wie irgendein entsetzliches, verfluchtes Ungeheuer. Ich versuche ihm nachzurennen, aber er ist immer ein Stück vor mir. Der Nebel verdichtet sich und ich verliere Amar aus den Augen. Als sich der Nebel teilt, bin ich in einer kalten, öden Gegend – einem schrecklichen, schönen Ort. Ein Heer verlorener Seelen taucht aus dem Nebel auf. Sie sehen mich an und ich bin so unglaublich mächtig. Mächtiger, als ich es mir je hätte vorstellen können.«
Er wischt sich mit einem Arm über die Stirn.
»Und ist das alles?«
»Ich …« Er wirft mir einen verstohlenen Blick zu. »Ich sehe Ihr Gesicht.«
»Ich? Ich bin dort?«
Er nickt.
»Nun ja … was geschieht dann?«
Er sieht mich nicht an. »Sie sterben.«
Eine Gänsehaut läuft mir über die Arme. »Wie?«
»Ich …« Er verstummt. »Ich weiß es nicht.«
Der Wind, der vom Weiher her weht, lässt mich abermals erschauern. »Es sind nur Träume.«
»Ich glaube an Träume«, antwortet er.
Ich nehme seine Hände, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob es zu kühn ist. »Kartik, warum kommen Sie nicht mit mir ins Magische Reich und suchen selbst nach Amar? Dann würden Sie Gewissheit haben und die Träume würden vielleicht aufhören.«
»Aber wenn sie wahr sind?« Er zieht seine Hände aus meinen. »Nein. Sobald ich den Zigeunern bezahlt habe, was ich ihnen für ihre Hilfe schulde, bin ich auf dem Weg nach Bristol und auf die HMS Orlando. «
Ich stehe auf. »Also wollen Sie nicht einmal versuchen zu kämpfen?«, frage ich und schlucke den Klumpen, der in meiner Kehle aufsteigt, hinunter.
Kartik starrt vor sich hin. »Schließen Sie das Bündnis ohne mich, Gemma. Sie werden gut allein zurechtkommen.«
»Ich habe es satt, auf mich allein gestellt zu sein.«
Ich wische energisch die Tränen fort und marschiere in den Wald. Kurz hinter dem Zigeunerlager treffe ich Mutter Elena, die einen vollen Eimer nach Spence schleppt.
»Was tust du da?«, frage ich. Ich entreiße ihr den Eimer und die dunkle Flüssigkeit darin schwappt hin und her. »Was ist das?«
»Das Zeichen muss mit Blut gemalt sein«, sagt sie. »Zum Schutz.«
»Du warst es, die den Ostflügel beschmiert hat? Warum?«
»Ohne Schutz werden sie kommen«, sagt sie.
»Wer wird kommen?«
»Die Verdammten.« Sie fasst nach dem Eimer, aber ich halte ihn außerhalb ihrer Reichweite.
»Ich werde nicht noch einen Vormittag mit Schrubben verbringen«, sage ich.
Mutter Elena zieht ihren Schal enger um sich. »Zwei Wege! Das Siegel ist zerbrochen. Warum hat Eugenia es erlaubt? Sie weiß … sie weiß.«
Die Erlebnisse dieser ganzen gespenstischen Nacht steigen in mir auf wie ein streunender Hund, der sich nicht länger treten lassen will. »Eugenia Spence ist tot. Sie ist seit zwanzig Jahren tot. Du wirst das nicht noch einmal machen, Mutter Elena, oder ich sage es Mrs Nightwing und du wirst für immer aus diesem Wald verbannt. Willst du das?«
Das Gesicht der alten Zigeunerin schrumpft zusammen. »Hast du meine Carolina gesehen?«
»Nein«, sage ich müde.
»Sie kann sich gut verstecken.«
»Das stimmt nicht …« Ich lasse es dabei bewenden. Es ist zwecklos, vernünftig mit Mutter Elena zu reden. Sie ist verrückt und ich habe das Gefühl, wenn ich noch länger hier stehe und mit ihr rede, werde ich selbst verrückt. Ich schütte das Blut ins Gras und gebe ihr den leeren Eimer zurück. »Du darfst das nicht wieder tun, Mutter Elena.«
»Sie werden kommen«, krächzt sie und humpelt davon.
Auf dem Rückweg nach Spence fliegt irgendwas dicht an meinem Kopf vorbei und ich schreie auf.
»Krah! Krah!«, ruft es, während es vor mir herflattert. Nichts als ein ganz gewöhnlicher Rabe. Er lässt sich im Rosengarten nieder und pickt nach Blüten.
»Schuuh, schuuh!« Ich schlage mit meinen Röcken nach ihm und er fliegt auf. Dann sehe ich etwas Merkwürdiges: Ein Rosenbeet wurde von Frost gestreift und mehrere knospende Rosen sind erfroren. Sie sind auf ihren Stängeln erstarrt, halb geöffnet und blau vor Kälte.
»Krah! ! Krah! «
Der Rabe lässt sich auf dem Turm des Ostflügels nieder und beobachtet mich.
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