Kein Entkommen
Hand kramte Gretchen ein Taschentuch hervor und wischte sich die Augen.
»Und dann wurde mir auf einmal klar, dass sie nicht wirklich lebendig waren«, sagte Horace. »Und du und ich auch nicht. Wir waren tot, und die Lincoln Avenue, in der wir uns wiedertrafen, war im Himmel.«
Gretchen schnäuzte sich und tupfte sich erneut die Augen ab.
»Tut mir leid«, sagte Horace. »Ich hätte es dir nicht erzählen sollen. Wahrscheinlich hätte ich das auch gar nicht geträumt, wenn dieser Harwood nicht hier gewesen wäre. Sein Besuch hat alles wieder wachgerufen. Er hätte einfach zu Hause bleiben sollen, statt uns mit seiner hirnrissigen Geschichte zu belästigen. Wir haben genug gelitten.«
Gretchen knüllte das Taschentuch zu einem kleinen Ball zusammen.
Horace nahm das Bild seiner Tochter in die Hand. Sein ganzer Körper schien sich dabei zu krümmen.
»Es war nicht deine Schuld«, flüsterte Gretchen. Im Lauf der Jahre hatte sie das bestimmt schon tausend Mal gesagt.
Horace schwieg.
Gretchen richtete den Blick wieder auf das Foto von Jan Harwood.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Horace. »Wie kommt jemand auf die Idee, die Identität eines kleinen Mädchens zu stehlen?«
»So was passiert öfter, als man glaubt«, sagte Gretchen. »Ich hab’s neulich im Fernsehen gesehen. Da gibt’s Leute, die suchen auf Friedhöfen Gräber von Kindern, die ein ähnliches Geburtsdatum haben wie sie selbst, und dann bauen sie sich mit dem neuen Namen ein anderes Leben auf.«
»Dreckskerle«, zischte Horace. Er warf einen Blick auf das Foto in Gretchens Händen. »Hübsche Frau.«
»Ja.«
»Ihr Mann muss doch schier verrückt werden«, sagte Horace. »Diese schreckliche Ungewissheit, ob sie noch lebt oder vielleicht tot ist.«
»Solange man nichts Genaues weiß, hat man immer noch Hoffnung«, sagte Gretchen, während sie weiter das Bild betrachtete. »Ich gucke mir das Bild jetzt schon den ganzen Tag an. Ich wusste schon gestern, als er es mir zum ersten Mal gezeigt hat, dass …«
»Was?«, sagte Horace.
Gretchen rang nach Worten. »Horace …«
Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ist ja schon gut«, sagte er.«
»Horace, sieh dir das Foto an.«
»Ich hab’s schon gesehen.«
»Nein.« Sie tippte auf das Bild. »Sieh dir das hier an.«
»Moment.« Seufzend griff er in seine Hemdtasche und zog seine Lesebrille hervor. Als er die Bügel aufklappte, bemerkte er, dass die Gläser dringend einmal wieder geputzt werden mussten, aber er setzte sie trotzdem auf.
»Also, was soll ich mir jetzt ansehen?«
»Das da.«
»Was meinst du?«
»Das.«
Er ergriff das Bild mit beiden Händen und betrachtete es zwei, drei lange Sekunden, ehe seine Finger zu zittern begannen.
»Das ist nicht wahr«, sagte er.
30
Als Welland gewendet hatte und wir uns auf dem Rückweg befanden, sagte ich zu Elmont Sebastian: »Mal angenommen, ich würde herausfinden, wer mir die E-Mail geschickt hat, und Ihnen den Namen der Frau verraten.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Was würden Sie mit ihr machen?«, fragte ich.
»Ein paar Takte mit ihr reden«, erwiderte Sebastian.
»Und das heißt?«
»Ich würde ihr sagen, dass sie froh sein kann, keinen Schaden angerichtet zu haben. Außerdem würde ich ihr erklären, dass es nicht sehr schlau ist, sich seinem Arbeitgeber gegenüber illoyal zu zeigen.«
»Vorausgesetzt, sie arbeitet tatsächlich für Sie«, wandte ich ein.
»Oder für Mr Reeves. Wie auch immer, es ist ja wohl das Letzte, seinen Arbeitgeber hinzuhängen.«
Als wir uns Teds Laden näherten, ging Welland erst vom Gas, beschleunigte dann aber plötzlich wieder.
»He«, sagte ich. »Sie sind vorbeigefahren.«
»Hätte ich gar nicht bemerkt«, entgegnete er.
Ich warf Sebastian einen Blick zu. »Was ist los?«
Er schien genauso ratlos zu sein wie ich. »Welland?«
»Sah so aus, als würde Mr Harwood erwartet«, erklärte Welland.
Was?, dachte ich.
»Fahren Sie nach der Kurve rechts ran«, sagte Sebastian.
Welland fuhr noch etwa zweihundert Meter weiter, ehe er den Wagen auf den Seitenstreifen lenkte. Als er angehalten hatte, sagte Sebastian: »War mir eine Freude, David.«
Toll, dachte ich. Erst zwangen sie mir einen Abstecher in den Wald auf, und dann brachten sie mich nicht mal zu meinem Wagen zurück.
»Ich will Ihnen keine Ratschläge erteilen, David, aber lassen Sie sich meine Worte noch mal durch den Kopf gehen«, sagte Sebastian, als ich die Tür öffnete.
Ich stieg aus und machte mich auf den
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