Kein Land für alte Männer
Leute. Stinknormal, wie man so sagt. Das hab ich ihr gesagt, und darauf hat sie mich ganz komisch angeguckt. Sie hat gedacht, ich hätt was Abfälliges über die Leute gesagt, aber da, wo ich her bin, ist das natürlich ein großes Kompliment. Sie hat unentwegt weitergeredet. Und schließlich hat sie mir gesagt: Es passt mir nicht, hat sie gesagt, wo dieses Land hinsteuert. Ich will, dass meine Enkelin das Recht auf Abtreibung hat. Darauf hab ich gesagt: Tja, Ma’am, ich glaub nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, wohin das Land steuert. So wie ich es seh, hab ich keine großen Zweifel, dass sie das Recht auf Abtreibung kriegen wird. Ich behaupte sogar, sie wird nicht nur das Recht auf Abtreibung kriegen, sondern auch das Recht, Sie einschläfern zu lassen. Damit war das Gespräch dann so ziemlich vorbei.
Chigurh humpelte die siebzehn Treppen des kühlen Betontreppenschachts hinauf, und als er bei der Stahltür auf dem Treppenabsatz anlangte, schoss er mit dem Bolzenschussgerät den Schlosszylinder heraus, öffnete die Tür, trat in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Die Schrotflinte in beiden Händen, blieb er an die Tür gelehnt stehen und lauschte. Atmete dabei nicht schneller, als wenn er gerade von einem Stuhl aufgestanden wäre. Er ging den Flur entlang, hob den kaputten Zylinder vom Boden auf, steckte ihn ein und ging weiter zum Fahrstuhl, wo er abermals lauschend stehenblieb. Er zog seine Stiefel aus, stellte sie neben die Fahrstuhltür und ging, sein verletztes Bein schonend, auf Strümpfen langsam weiter den Flur entlang.
Die Bürotür zum Flur stand offen. Er blieb stehen. Vielleicht, dachte er, sah der Mann seinen eigenen Schatten nicht, der unscharf umrissen, aber deutlich sichtbar an die äußere Flurwand geworfen wurde.
Chigurh hielt das für ein seltsames Versehen, wusste jedoch, dass die Angst vor einem Feind die Menschen oft für andere Gefahren blind machte, nicht zuletzt für die Gestalt, in der sie selbst sich der Welt zeigten. Er streifte den Tragegurt von der Schulter und stellte den Druckluftbehälter auf dem Boden ab. Er studierte die Haltung, die der Schatten des Mannes, vom Licht des Rauchglasfensters hinter ihm gerahmt, einnahm. Mit dem Handballen schob er, um die Patrone in der Kammer zu überprüfen, den Zubringer leicht zurück und entsicherte.
Der Mann hielt eine kleine Pistole in Hüfthöhe. Chigurh trat in die Tür und schoss ihm mit einer Ladung Zehnerschrot in den Hals. Das Kaliber, das Trophäenjäger verwendeten, um Vögel zu schießen. Der Mann stürzte nach hinten in seinen Drehstuhl, den er umstieß, und ging zu Boden, wo er zuckend und gurgelnd liegen blieb. Chigurh hob die rauchende Patronenhülse vom Teppichboden auf, steckte sie ein und ging ins Zimmer, während von dem Metallzylinder, der auf das Ende des abgesägten Flintenlaufs aufgesetzt war, noch fahler Rauch aufstieg. Er trat um den Schreibtisch herum und sah auf den Mann hinab. Dieser lag auf dem Rücken und hielt sich mit einer Hand den Hals, doch das Blut quoll stetig zwischen seinen Fingern hindurch auf den Teppich. Sein Gesicht war voller kleiner Löcher, doch sein rechtes Auge schien unversehrt, er blickte zu Chigurh auf und versuchte, mit seinem blubbernden Mund zu reden. Auf die Schrotflinte gestützt, ließ sich Chigurh auf ein Knie nieder und sah ihn an. Was ist?, fragte er. Was wollen Sie mir sagen? Der Mann bewegte den Kopf. Das Blut gurgelte in seiner Kehle.
Können Sie mich verstehen?, fragte Chigurh.
Der Mann gab keine Antwort.
Ich bin der Mann, den Carson Wells in Ihrem Auftrag umbringen sollte. Ist es das, was Sie wissen wollten?
Er betrachtete ihn. Der Mann trug einen Trainingsanzug aus blauem Nylon und weiße Lederschuhe. Um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache, und er zitterte, als wäre ihm kalt.
Ich hab Vogelschrot verwendet, weil ich das Fenster nicht kaputt machen wollte. Hinter Ihnen. Damit kein Glas auf die Leute auf der Straße regnet. Er wies mit dem Kopf auf das Fenster, wo sich die obere Silhouette des Mannes in den kleinen grauen Kratern abzeichnete, die das Blei im Glas hinterlassen hatte. Er sah den Mann an. Dessen Hand am Hals war erschlafft, und der Blutfluss hatte sich verlangsamt. Er blickte auf die danebenliegende Pistole. Dann stand er auf, sicherte die Schrotflinte, ging um den Mann herum ans Fenster und inspizierte die von den Bleikugeln hervorgerufenen Vertiefungen. Als er erneut auf den Mann hinabsah, war dieser tot. Er durchquerte das Zimmer und blieb
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