Kesseltreiben
dem Display erschien eine wohlbekannte Nummer – Simone. Er zögerte nur einen kurzen Moment, dann drückte er das Gespräch weg. Was sollte das? Sie hatten es hundertmal besprochen, und sie hatten die Entscheidung gemeinsam getroffen. Warum tat sie ihm das jetzt an?
Seufzend rieb er sich das Gesicht. Bloß jetzt nicht nach Hause, dort würde er verrückt. Irgendetwas musste er heute Abend unternehmen. Es war noch nicht spät, vielleicht konnte er jemanden von der Schauspielertruppe besuchen. Lettie fiel ihm als Erste ein, heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit war er an der Straße vorbeigekommen, in der sie wohnte. Sie lebte schon sehr lange in Kessel, und vielleicht konnte er so ganz nebenbei ein bisschen mehr über das Dorf erfahren, in dem dieser Junge, dessen Gesicht in der Rekonstruktion so beklemmend arglos ausgesehen hatte, umgebracht worden war. Letties Telefonnummer hatte er gespeichert.
»Bernie, Junge, das ist ja eine tolle Überraschung! Natürlich kannst du mich besuchen kommen. Das wird mir den Abend versüßen, die anderen sind nämlich ausgeflogen.«
Er wusste, dass sie mit zwei Freundinnen in einer Kate direkt an der holländischen Grenze wohnte. »Hoffentlich hast du noch nicht gegessen.«
Fünf
Deutschland ist Fußballweltmeister – nach zwanzig Jahren wieder. Das ist schon toll, aber irgendwie bin ich auch froh, dass der ganze Rummel vorbei ist. Es wurde ja über nichts anderes mehr gesprochen, bloß noch Fußball, im Dorf, im Zug, in der Schule, sogar in der Küche.
Aber etwas war doch klasse: Papa hat sich so gefreut, dass er mir endlich ein Mofa gekauft hat. Jetzt kann ich alleine zum Bahnhof fahren. Macht Spaß. Am ersten Tag bin ich allerdings viel zu früh los und musste ewig auf den Zug warten. Da fahren morgens immer dieselben Leute mit, ein paar gehen auch auf meine Schule, aber mit mir hat noch keiner gesprochen. Ich traue mich nicht. Vielleicht geht es den anderen ja genauso.
Mama ist so altmodisch. In der Schule sind alle Mädchen geschminkt und haben Jeans mit Schlag an und Lederclogs mit dicken Korksohlen. Und ich muss Kleider anziehen. Kleider sind am schlimmsten. Röcke gehen ja noch. Die kann ich oben umkrempeln, obwohl, supermini geht nicht, sonst habe ich so eine dicke Rolle um die Taille.
Ich habe Papa gesagt, dass ich festes Taschengeld brauche. Er sagt immer, das ist doch nicht nötig, wir kaufen dir doch alles. Aber ich habe ihm gesagt, ich wäre jetzt schließlich zweimal die Woche in der Großstadt, und außerdem ist es wichtig, dass ich selbstständig werde und Verantwortung übernehme. (Ich hatte mir das alles vorher zurechtgelegt.) Und alle anderen in meiner Klasse kriegten schon lange ihr eigenes Taschengeld. Klar kam dann wieder: Wenn alle von der Brücke springen, springst du dann auch? Aber dann hat er gesagt, er würde es sich überlegen.
Ich habe mir in der Drogerie gegenüber vom Bahnhof Schminke gekauft, nicht viel, bloß Wimperntusche und einen hellrosa Lippenstift. Und gestern hatte ich Schule, und morgens hab ich mich einfach geschminkt an den Frühstückstisch gesetzt. Und dann die Überraschung: Mama und Papa haben bloß ein bisschen komisch geguckt, aber kein Wort gesagt. Ich glaube, die merken jetzt doch, dass ich wirklich kein Kind mehr bin.
Einer aus meiner Klasse ist total süß. Er heißt Kai und ist schon fast achtzehn. Er hat so lange blonde Locken wie Harpo, den ich ja sowieso süß finde. Und er ist, glaube ich, ziemlich schüchtern, jedenfalls redet er nicht so viel. Die anderen in der Klasse sind überhaupt nicht schüchtern, aber die kommen ja auch fast alle aus Krefeld. Ich glaube, man wird ganz anders, wenn man in der Großstadt aufwächst. Die Mädchen sind sehr selbstbewusst, da kann ich mir was abgucken. Außer bei Claudia, die benimmt sich wie eine Nutte. Die hat bestimmt schon mit vielen Jungs geschlafen. Das könnte ich nie. Ich würde nur mit einem Jungen schlafen, den ich wirklich liebe. Und er muss mich auch echt lieben, und er soll es mir auch sagen.
Heute habe ich mich getraut. Ich bin zum ersten Mal geschminkt zur Arbeit gegangen. Der Chef hat getobt. Ob ich zum Zirkus will, und ich soll mir das Zeug aus dem Gesicht waschen, das wäre ja unhygienisch. Und Melanie, die ist schon im dritten Lehrjahr, hat mir den Vogel gezeigt. Die sind alle so was von spießig!
Und überhaupt, was hat das mit Kochlehre zu tun, wenn ich bloß die Drecksarbeit machen darf? Ich habe noch nicht ein einziges Mal gekocht.
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