Killerspiel
Genauso wenig war ich mir darüber im Klaren, inwieweit ich mir die Sache selbst zuzuschreiben hatte, weil ich Steph etwas nicht gab, was sie vermisste. Es ist wahrlich eine Schande, dass das Leben so weit hinter dem zurückbleibt, was wir uns immer an Perfektion ausmalen. Der perfekte Abend, das perfekte Wochenende, das perfekte Haus … Unsere Phantasie gaukelt uns diese Bilder mühelos vor, und so schreiben wir im Kopf die schönsten Märchen in den leuchtendsten Farben. Unterdessen schaltet die Welt auf stur, kommt uns mit Ausflüchten und Hinhaltetaktiken – doch wir glauben daran, dass dieses Universum so viel größer ist als wir und jede Menge Wunder auf Lager hat. Und so reden wir uns die Dinge klein, die wir haben, und machen zu wenig Gebrauch davon, weil da draußen ja so viel mehr auf uns wartet. Wahrscheinlich wartet da nichts. Vielleicht ist das Leben, das man schon hat, das beste, das man bekommen kann. Diese unerschöpfliche Phantasie ist nur die Stimme finsterer Mächte, die uns mit Versprechen umgarnen. Ein paar Götter kämpfen ja vielleicht dagegen an und geben uns ein Leben, das eher an unsere Vorstellungen herankommt, doch im Allgemeinen läuft es nicht nach dem Prinzip »Wunschzettel an den Weihnachtsmann«. Er will unseren Respekt, weil er Gott ist – und nicht, weil er nett oder barmherzig ist oder wegen irgendeinem Weichei-Schwachsinn.
Und als ich so dasaß, fing ich in gewisser Weise an zu beten, was ich schon lange nicht mehr getan hatte – nicht mehr seit der Zeit, als ich noch William und nicht Bill war. Meine Mutter war »nicht praktizierende« Katholikin und betete ab und zu. Mir war die Melodie vertraut, mehr aber auch nicht. Ich versuchte, sie zu summen. Mir war übel und ein wenig schwindelig, und das Gesicht von Cass erschien immer noch in unregelmäßigen Abständen vor meinem inneren Auge. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wo sich ihre Leiche jetzt befand, und hatte es aufgegeben, darüber nachzudenken, warum jemand so etwas getan haben könnte.
Ich hatte auch nicht vergessen, dass mein USB -Stick immer noch in ihrer Wohnung war, und bei dem Gedanken drehte sich mir jedes Mal der Magen um, als wendete ihn jemand mit einer rotglühenden Gabel. Das alles schob ich, so gut ich konnte, beiseite und schickte ein Gebet für Stephanie gen Himmel.
Ich habe keine Ahnung, wohin es ging.
Endlich nickte mir der Mann hinter dem Empfangstisch zu. Ich ging zum Fahrstuhl und begab mich in den vierten Stock.
Ich klopfte an die Tür zur Wohnung der Thompsons, und sie wurde augenblicklich von Tony geöffnet, als hätte er direkt dahinter gestanden und gewartet. Vielleicht lag es ja nur daran, dass ich jeden danach beurteilte, wie ich mich fühlte, doch es kam mir so vor, als sähe er an diesem Tag älter aus als sonst. Älter und angespannt, mit tiefen Falten unter den Augen. Die Augen selbst wirkten ausdruckslos, doch so schnell er mir aufgemacht hatte, so wenig schien er in Eile, mich hereinzubitten. Hinter ihm sah ich Marie mit verschränkten Armen auf dem großen weißen Sofa sitzen.
Schließlich trat Tony zur Seite. Die Flasche Wein, die ich ihm geschenkt hatte, stand auf dem Couchtisch. Sie war ungeöffnet. Tony setzte sich nicht und bot auch mir nicht an, Platz zu nehmen.
»Also, was ist los, Bill?«, fragte Marie.
Bisher hatte mich Marie erst wenige Male direkt angesprochen, und ich hatte es immer höchst irritierend gefunden. Sie hatte sich ganz der Maxime Figur vor Gesicht verschrieben – die kantigen Flächen sowie scharfen Linien um Augen, Nase und Mund waren streng und unversöhnlich. Selbst in ihrer Jugend hatten diese Züge sicher eher Bewunderung als Freude ausgelöst: Die Knochen waren schwer und asymmetrisch, so gefügt, als dienten sie eher dazu, einem Aufprall zu widerstehen, als Anziehungskraft auszuüben. Andererseits hatten ich und ein paar weitere Zuschauer zugesehen, wie diese Frau mit ihren sechzig Jahren Karren auf dem Tennisplatz souverän geschlagen hatte, und ich war mir ziemlich sicher, dass Karren sich nicht aus Höflichkeit zurückgehalten hatte.
»Ich hab diese Flasche zusammen mit einer zweiten gekauft«, sagte ich. »Jemand hat die andere bei mir zu Hause gefunden. Zur Hälfte getrunken. Und jetzt ist derjenige im Krankenhaus und ganz übel dran. Ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang besteht. Aber möglich wär’s.«
»Tony sagt, Sie hätten den Wein über das Internet gekauft.«
»Ja, ich hab gehört, wie er ihn erwähnt hat,
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