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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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verschmolzen miteinander, und es fiel ihm immer schwerer, zwischen ihnen zu unterscheiden.
    »Was ist mit dir?«, fragte Leandra. »Du hast dich irgendwie verändert.«
    Um Leandra und auch sich selbst abzulenken, betätigte er die virtuellen Kontrollen und ließ Lahor im Hauptdisplayfeld erscheinen. »Das ist unser Ziel«, sagte er. »Lahor, dritter Planet des Chhor-Systems, noch vor hundert Jahren eine Welt der Dichter, Literaten, Stückeschreiber und Immersionskünstler aller Art. Bis sich die vermeintliche ›Muse des Nordens‹ in den Tälern der Kronenberge und bei den Sieben Schimmernden Wassern als ein Parasit erwies, der ihnen langsam das Gehirn zerfraß. Bist du schon einmal auf Lahor gewesen?«
    Leandra schüttelte den Kopf.
    »Aber du hast bestimmt von dem Planeten gehört?«, fragte Esebian, Gedanken und Gefühle geschützt vom kontrollierten mentalen Modus.
    Leandra schüttelte erneut den Kopf, lächelte und hing plötzlich an seinen Lippen wie ein Kind, das sich eine interessante Geschichte erhoffte. »Erzähl mir davon.«
    Wieder betätigte Esebian die Kontrollen, und der Planet, bisher nur eine kleine Scheibe in der Ferne, schwoll an, wurde zu einer Kugel mit opalblauen Meeren und großen Landmassen, eine geformt wie eine Hand, die sich um die halbe Welt schlang und die Farben des Herbstes trug. Im Norden trafen sich die Landmassen der beiden Kontinente Ocas und Mizner und türmten ein bis zu zehn Kilometer hohes Gebirge auf, das über den Äquator hinweg bis in die südpolaren Regionen reichte: das Himmlische Rückgrat. Ein eingeblendetes Indikatorlicht zeigte Leandra, wo sich die nördlichen Kronenberge und die Sieben Schimmernden Wasser befanden. »Die ›Muse‹ hat sich als ein von bestimmten Algen abgesondertes Molekül erwiesen, das von Menschen mit der Atemluft aufgenommen wird. Dieser molekulare Parasit bleibt harmlos, solange er nicht die Blut-Hirn-Schranke durchdringt. Im Gehirn von prädisponierten Personen verbindet er sich mit den Neuronen und verändert gewissermaßen den neurologischen Schaltplan des Gehirns. Es sprach sich schnell unter den Künstlern herum. Lahors Kuss der Muse … Aber der Preis – nach achtzig oder neunzig Jahren, manchmal früher, manchmal später – besteht aus einem zerstörten Bewusstsein, das weder Backups aufnehmen noch Unsterblichkeit erlangen kann, in welcher Form auch immer.«
    »Besteht?«, wiederholte Leandra.
    »Es befinden sich noch immer Anhänger der Muse bei den Schimmernden Wassern«, sagte Esebian. Seine Hände blieben in Bewegung und erweckten den Anschein, Indikatorlichter zu steuern und Daten abzurufen. Aber sie verschickten auch Daten: eine codierte Nachricht für die Aurora-Basen auf Lahor. Er hatte sie nach seinem Adaptationsschlaf und vor Leandras Erwachen aufgezeichnet, und sie enthielt die kleine, nicht mit Erebos abgesprochene Erweiterung des Plans. Esebian versuchte, nicht bewusst daran zu denken, als seine durch virtuelle Kontrollen streichenden Finger die Nachricht dem immensen Kommunikationsverkehr bei Lahor hinzufügten: ein sieben Nanosekunden langes Signal, wie ein Tropfen in einem Ozean. »Und sie lehnen es ab, Atemfilter zu tragen.«
    »Aber wenn sie wissen, was der Parasit mit ihren Gehirnen anstellt …«, sagte Leandra verwundert.
    »Es kümmert sie nicht. Sie leben im Jetzt. Oder sie gehen ganz in ihrem kreativen Schaffen auf. Solange der Kuss der Muse wirkt, leisten sie Großartiges, und vor allem darauf kommt es ihnen an.«
    »Violette Wünsche an einem Tag mit rotem Schnee«, murmelte Leandra. Sie sah ihn dabei nicht an, aber Esebian glaubte zu erkennen, wie sie ihm aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zuwarf. Und dann fügte sie hinzu: »Unter vielen Farben sollen ruhen Kummer und Weh. Lass Licht die Dunkelheit des Schmerzes durchdringen und meiner Seele endlich Frieden bringen.«
    Für einen Sekundenbruchteil verharrte Esebians Hand bei den virtuellen Kontrollen, und dann setzte sie ihre Bewegung fort, wies das Navigationssystem an, die Antares zu einem der neunhundertzweiundachtzig Orbit-Ports zu bringen, wo Transferitoren es den Reisenden ermöglichten, die Oberfläche des Planeten mit nur einem Schritt zu erreichen, ohne Flug mit Orbitalspringern. Der Energieaufwand war enorm, aber Lahor konnte sich einen solchen Luxus leisten, denn vor sechzig Jahren hatten die Magister erste Kernzapfer installiert, und hinzu kamen mehr als hundert Superfusionsstationen, in denen Sonnenfeuer brannten. Energie im Überfluss –

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