Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
richtigen Fragen zu formulieren, nicht wahr?«, erwiderte Leandra. »Anschließend kann man mit der Suche nach Antworten beginnen.«
    »Die Fragensteller gehören zu den Klerikalen«, sagte Esebian.
    »Ja, ich weiß.« Leandra richtete einen forschenden Blick auf ihn. »Haben Sie etwas gegen die Klerikalen?«
    Esebian zuckte die Schultern.
    »Ich habe beschlossen, mir alles anzusehen, bevor ich eine Entscheidung treffe«, fuhr Leandra fort. »Die Tausend Tiefen mit all ihrer Vielfalt, die Seelenlandschaften der Klerikalen, sogar die Gemischten Gebiete – auf die bin ich besonders neugierig. Stimmt es, dass Bewohner der Gemischten Gebiete keine Kandidaten werden können?«
    Zum ersten Mal seit dem Beginn des Gesprächs regte sich Argwohn in Esebian. Wieder musterte er die junge Frau, diesmal mit Kyrills Augen. Täuschte der äußere Eindruck? Trug Leandra Covitz – wenn das ihr wirklicher Name war – eine Maske, hinter der sich jemand anders verbarg? Er sondierte sie mit den Erweiterungen, die er hier im Wartebereich des Filigranports einsetzen durfte, und das Ergebnis bestätigte sein bisheriges Bild von ihr: eine sehr junge, unerfahrene Person, die erst noch lernen musste, durch den eigenen inneren Kosmos zu navigieren, durch die Stürme wirrer Emotionen, trügerischer Hoffnungen, unerfüllter Träume und bitterer Enttäuschungen. Leandra hatte die ersten Schritte in die große weite Welt des Universums getan, und trotz ihrer Überschwänglichkeit, ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Fröhlichkeit und Zuversicht … fürchtete sie sich. Esebian spürte es plötzlich so deutlich wie etwas, das er mit den Fingern berühren konnte, wenn er die Hand ausstreckte. Furcht nicht vor der Unendlichkeit des Universums, sondern vor der eigenen Winzigkeit, vor einer Bedeutungslosigkeit, die einem den Hals zuschnüren und die Luft zum Atmen nehmen konnte. Man brauchte Zeit, um das Universum zu sehen und zu erfahren und seinen Platz darin zu finden, all die Wunder zu bestaunen und wenigstens ein paar zu verstehen. Und während man sich nach und nach zu dieser Erkenntnis durchrang, tickte unbarmherzig die Uhr des Lebens und ließ einem immer weniger Zeit. Es sei denn, man wurde Kandidat und schaffte schließlich den Aufstieg zu den Hohen Welten der Erlauchten. Nur dann hatte man Zeit genug, für die beiden Universen: das eine außerhalb, unermesslich groß und sich mit jeder verstreichenden Sekunde ausdehnend, und das andere innerhalb, im eigenen Kopf, kaum kleiner.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Leandra. Ein Hauch von Sorge erklang in ihrer Stimme.
    Esebian atmete tief durch. »Sie haben Recht. Viele Bewohner der Gemischten Gebiete können keine Kandidaten werden. Die meisten.«
    »Warum nicht?«
    Es war die Frage eines Kinds, fand Esebian: offen, direkt, unverblümt, ohne Rücksicht auf Konventionen und Traditionen. Andererseits: Sechsundzwanzig Echtjahre hätten eigentlich Zeit genug sein sollen, die grundlegenden Umgangsformen zu erlernen und bestimmte Tabus zu erkennen.
    »Weil sie einen … Makel haben«, sagte Esebian.
    »Auf Mway dachte ich immer, dass die Meriten den Ausschlag geben, die Verdienste, die man in den interstellaren Gesellschaften erwirbt. Aber dann hörte ich von den Gemischten Gebieten und dem Makel. Es stimmt also.«
    »Ja.«
    »Aber wie können sich manche Menschen für die Unsterblichkeit eignen und andere nicht?«, fragte Leandra sofort. »Es kann also passieren, dass man genug Meriten hat, Verdienste an der Gesellschaft, und trotzdem nicht unsterblich wird. Ich finde das …«
    Esebian wartete einige Sekunden. »Ungerecht?« Vorsicht , sagte eine Stimme in ihm, so laut, dass er für einen verrückten Moment glaubte, Kyrill hätte Gestalt angenommen und stünde neben ihm. Vielleicht will sie dich aus der Reserve locken. Der Gedanke war da, von Kyrill, den anderen und auch von ihm selbst formuliert, von ihnen allen. Wollte ihn die so unschuldig wirkende Leandra veranlassen, einen Teil seines Wissens preiszugeben? Er wusste mehr über den Makel als viele andere Menschen.
    »Nicht unbedingt ungerecht «, erwiderte Leandra. Wieder rieb sie sich die Arme und schien kurz zu frösteln. »Ich meine, ich weiß nicht genug über die Hintergründe. Aber ich finde es … seltsam. Ich meine, man bemüht sich sein ganzes Leben lang, und dann …« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. »Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht ist es wirklich ungerecht.«
    »Ich habe nicht behauptet, dass es ungerecht

Weitere Kostenlose Bücher