Kinder der Nacht
namens Ion ging vor ihr her die Treppe hinauf, während einer der namenlosen Strigoi in Schwarz ihr folgte und sie ab und zu stieß, wenn sie auf den steilen Stufen aus dem Tritt kam. Die Holzstufen waren so alt, daß sie in der Mitte ganz ausgetreten waren. Der Teppich auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock war so abgelaufen, daß weder Farbe noch Muster zu erkennen waren.
Auf diesem Treppenabsatz holte Ion eine stumpfe Schere aus der Tasche und schnitt die Plastikfesseln an ihren Handgelenken durch. Kate hob die Hände und probierte, die Finger zu bewegen, während sie versuchte, ihre Schmerzen vor den beiden Männern zu verheimlichen.
»Du sprichst nur, wenn Vater Fragen stellt«, sagte Ion und wiederholte damit noch einmal Radu Fortunas Anweisung. Die Augen des Eindringlings wirkten schwarz. »Verstanden, ja?«
Kate nickte. Obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, trieben ihr die Schmerzen in den Händen Tränen in die Augen.
Ion lächelte und machte die Tür auf.
Es war kein großes Zimmer, und es wurde nur von zwei Kerzen erhellt. Bei den winzigen Fenstern an der Ostwand stand ein Bett; Kate konnte darin eine vermummte Gestalt sehen.
Einer der Schatten bewegte sich, und Kate zuckte zusammen, als sie zwei hünenhafte Männer in gegenüberliegenden Ecken sah. Sie waren gigantisch - mindestens einsneunzig bis einsfünfundneunzig groß und kräftig -, und ihre rasierten Köpfe glänzten im spärlichen Licht. Jeder trug schwarze Kleidung und einen langen Schnurrbart. Der Nähere der beiden deutete ihr mit einer Geste, ans Bett zu treten. Ein einziger Stuhl stand daneben.
Kate ging näher hin und stellte sich hinter den Stuhl. Sie versuchte, den Mann unter der Decke zu betrachten, als wäre sie eine Ärztin, die zum ersten Mal einen Patienten sieht: nur Kopf, Schultern und die gelblichen Finger befanden sich über der Decke; er schien Mitte bis Ende achtzig zu sein; er war fast kahl, abgesehen von langen weißen Strähnen, die von den Ohren ausgingen und auf dem Kissen lagen; sein Gesicht war über und über runzlig, voller Leberflecken, hager, daß es an Ausgezehrtheit grenzte, die Augen lagen tief in den Höhlen, und sein Mund wies die für sehr alte oder sehr kranke Menschen typische spitze Form auf; Nase, Unterlippe, Wangen und Kinn waren vorstehend, der Kiefer prognathisch; Luft strömte mit der schrecklichen Kadenz des Cheyne-Stokes-Atmens in und aus seinem Mund, und der Atem war übelriechend - das konnte Kate aus drei Schritt Entfernung riechen -, wie es häufig bei Menschen vorkam, die so lange gefastet hatten, daß der Körper benötigtes Gewebe verdaute; er hatte noch alle Zähne.
Kate stand da, konnte nicht diagnostisch denken, konnte überhaupt kaum einen klaren Gedanken fassen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie eine jüngere Version dieses Gesichts gesehen: im Kunsthistorischen Museum in Wien, das Porträt von Vlad Ţepeş, Leihgabe der ›Monstergalerie‹ von Schloß Ambras.
Dann hörte das schreckliche Atmen auf, und der alte Mann schlug die Augen auf wie eine Eule, die Beute gehört hat.
Kate stand mucksmäuschenstill und unterdrückte den Impuls zu fliehen. Ihre Finger, in denen noch der Schmerz des wiederhergestellten Blutkreislaufs pochte, wurden weiß, so sehr umklammerte sie die Stuhllehne, bis ihr Splitter unter die Fingernägel drangen.
Die beiden sahen einander einige Minuten nur an. Kate bemerkte seine Augen: wie groß und dunkel und herrisch sie waren. Dann bewegte er die Finger auf der Decke und Kate bemerkte die Fingernägel, die mindestens sechs Zentimeter lang und gelb wie altes Pergament waren. Das Schweigen zog sich weiter in die Länge.
Der alte Mann sagte etwas, das sich wie Türkisch oder Persisch anhörte. Die Worte kamen ihm leise über die Lippen, wie das kaum hörbare Krabbeln großer Insekten in faulendem Holz.
Kate verstand nicht und sagte nichts.
Der alte Mann blinzelte langsam, leckte sich die dünnen, rissigen Lippen mit einer weißen Zunge, die viel zu lang zu sein schien, und flüsterte: »Cum te numesti?«
Kate verstand das einfache Rumänisch. »Ich bin Doktor Kate Neuman«, sagte sie und stellte erstaunt fest, wie sicher ihre Stimme klang. »Wer sind Sie?«
Er schenkte der Frage keine Beachtung. »Doctorul Neuman«, flüsterte er vor sich hin, und Kate bekam eine Gänsehaut, als sie ihn ihren Namen aussprechen hörte.
Sie fragte sich, ob der alte Mann noch bei Verstand war oder ob die Alzheimersche Krankheit sein Gehirn so verwüstet hatte
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