Klammroth: Roman (German Edition)
musste mit dem Zimmerschlüssel die Haustür aufschließen, die Rezeption war nicht mehr besetzt. Auf der Theke lag ein Zettel mit ihrem Namen. Als sie ihn umdrehte, fand sie darauf die Nachricht, dass ein Kommissar Herzog für sie angerufen habe und sie übermorgen treffen wolle. Dazu eine Handynummer mit dem Vermerk »24 h«. Sie hätte sich am liebsten ins Auto gesetzt und wäre auf Nimmerwiedersehen aus Klammroth verschwunden.
Aber Sebastian hatte sie neugierig gemacht. Was wusste er über Theodora? Sie hat nicht nur Gutes getan.
Im Zimmer lag Lily gelangweilt auf dem Bauch. »German Fernsehen sucks«, sagte sie, als Anais hereinkam.
»Ich wusste doch, dass sich die zweisprachige Erziehung auszahlt. Geht’s deinem Dad gut?«
»Schönen Gruß auch.«
»Nie im Leben.«
»Doch. Er hat gesagt, ich soll dich von ihm grüßen, und du möchtest gefälligst dafür sorgen, dass ich mir bei dem Wetter keine Grippe hole. Als wäre ich ein Scheißbaby.«
»Klingt schon eher nach ihm.«
Sie rief Herzog an und schlug ihm auf seiner Mailbox vor, dass sie ihn übermorgen um elf in der Pension treffen könne.
Lily ging ins Bad, um zu duschen. Als sie fort war, öffnete Anais das Fenster, um zu lüften. Regen schlug ihr ins Gesicht, viel heftiger als vorhin auf der Straße.
Sie blickte auf den Hinterhof der Pension. Ein Container für Küchenabfälle schimmerte in mattem Silber in der Dunkelheit. Sein Deckel war weit aufgerissen wie zu einem Schrei. Im Inneren flatterten schwarze Säcke, während der Wind an ihnen zerrte und der Regen auf sie niederpeitschte.
Im selben Augenblick stieß Lily die Badezimmertür auf.
»Mum!«, brüllte sie. »Schnell, komm her!«
12
In der Wanne lag ein Knäuel aus hellblonden Haaren. Als hätte eine Katze halb verdautes Gewölle ausgespuckt.
»Das ist nicht von mir«, sagte Lily angewidert. »Ich hab noch gar nicht geduscht.«
Anais hob es mit einem Stück Toilettenpapier aus dem Abfluss und warf es ins Klo. Im Wasser drehte sich die Strähne endlos um sich selbst, ehe die Spülung sie endlich verschluckte.
Anais war erstaunt über die Intensität ihres eigenen Abscheus – Herrgott, es waren nur Haare ! –, aber das war nichts gegen Lilys Ekel. Wie zwei hysterische Weiber, dachte sie, die mit gerafften Röcken vor einer Maus auf den einzigen Stuhl im Zimmer fliehen.
Sie trat vor den Spiegel und nahm die Perücke ab. Manchmal wuchsen einzelne Haare aus ihrer verwüsteten Kopfhaut, aber nie eine ganze Strähne. Und sie rasierte sie penibel ab, ehe sie auch nur zwei Millimeter lang waren.
»Ich kann hier nie mehr aufs Klo gehen«, sagte Lily. »Bestimmt ist alles voller Keime. Ich krieg schon Herpes, wenn ich dran denke.« Sie spähte argwöhnisch in die Wanne. »Und beim Duschen lass ich die Schuhe an!«
Seufzend ließ Anais sie im Bad allein und zog die Tür hinter sich zu. Sie streifte Jeans und Pullover ab und sank in Slip und Trägertop aufs Bett. Als Tropfen in ihr Gesicht wehten, bemerkte sie, dass es noch immer ins Zimmer regnete. Sie stand auf, machte Fenster und Vorhang zu und ließ sich wieder aufs Bettzeug fallen. Dort streckte sie sich, überkreuzte ihre Waden, schloss die Augen und gab sichalle Mühe, auf keinen Fall an einen Nachmittag vor neunzehn Jahren zu denken.
***
Nele, Sebastians zwölfjährige Schwester, saß im Schneidersitz im Gras und las hoch konzentriert eine Bravo , die Marion aus dem Zeitschriftenladen ihrer Eltern hatte mitgehen lassen. Die anderen acht Teenager, die sich auf der Wiese hinter dem stillgelegten Sägewerk versammelt hatten – fast alle vierzehn Jahre alt –, hatten das Heft bereits durchgeblättert, die Jungen auf der Suche nach diesen Bildern , die Mädchen unter Gequietsche beim Anblick der Boygroups. Nele zwirbelte gedankenverloren ihr langes Haar, während sie die aufgeschlagenen Seiten studierte. Neben ihr lagen weitere Hefte, darunter eine Ausgabe der Micky Maus , die inmitten der übrigen Magazine so deplatziert wirkte wie Nele mit ihrem verwaschenen Knight-Rider -T-Shirt zwischen den Klassenkameraden ihres älteren Bruders.
Anais hockte mit Christina ein wenig abseits, hörte sich halbherzig Geschichten vom Reitunterricht ihrer Freundin an und warf verstohlene Blicke zu Sebastian hinüber, der mit Ella aus der siebten Klasse knutschte und dabei eine Hand am Rücken unter ihr bauchfreies Shirt geschoben hatte.
Alle anderen waren schon in der Acht – eben mit Ausnahme von Nele, aber sie war Sebastians
Weitere Kostenlose Bücher