Klammroth: Roman (German Edition)
ewiges Anhängsel, und niemand kümmerte sich darum, dass sie zwei Jahre jünger war. Seit dem Tod ihres Vaters wich sie Sebastian kaum von der Seite. Die Mutter der beiden leitete ein Hotel und zwei Weinlokale, die einzigen, die Klammroth in den Neunzigern geblieben waren, und sie hatte kaum Zeit fürdie Kinder. Also kümmerte Sebastian sich mit Engelsgeduld um Nele und wurde fuchsteufelswild, wenn jemand eine Bemerkung darüber machte. Selbst seine wechselnden Freundinnen mussten mit Neles Anwesenheit klarkommen.
Anais kannte das Geflüster der anderen, aber seit ihre Mutter gestorben war, wusste sie, was der Verlust eines Menschen mit einem anstellen konnte. Und ihr war klar, dass sie nur Geduld haben musste, ehe auch Ella wieder verschwinden würde. Dann, und diesmal wirklich , würde sie Sebastian klarmachen, dass sie anders war als die übrigen Mädchen. Dass sie ihn verstand und kein Problem mit seiner kleinen Schwester hatte. Dass sie ebenso gut auf Nele eingehen konnte wie er selbst.
Das Problem dabei war nicht einmal, dass sie nicht an ihn herankam. Ganz im Gegenteil, sie standen sich zu nahe. Sie waren in derselben Straße aufgewachsen – er wohnte im vorderen Haus am Bergmühlweg, sie im letzten –, und seit der ersten Klasse waren sie unzählige Male gemeinsam nach Hause gegangen. Er hatte ihre Trauer miterlebt, als ihre Mutter starb, und nur wenige Jahre später hatte sie ihn unbeholfen beim Tod seines Vaters getröstet. Trotzdem trafen sie sich niemals zu zweit am Nachmittag, sondern immer nur im Kreis ihrer gemeinsamen Freunde.
Es tat ihr weh, ihn mit anderen Mädchen wie Ella zu sehen. Anais war verliebt bis über beide Ohren und bildhübsch mit ihrem hellblonden Haar, ihren langen Beinen und der Handvoll Sommersprossen. Irgendwann musste doch auch ihm das auffallen.
An jenem Freitagnachmittag im Spätsommer stand ihnen allen die Langeweile ins Gesicht geschrieben. Nele las, Sebastian knutschte, und Christina plapperte, aber alle waren nur halbherzig bei der Sache, genauso wie der Rest derGruppe. Nele blätterte immer schneller, Christina wirkte angeödet von ihrem eigenen Gerede, und Sebastian brachte keine Begeisterung für Ellas nackten Rücken auf. Sie war ganz süß, das musste Anais ihr lassen, aber in jeder Hinsicht eine Klasse unter ihr. Was Sebastian an ihr fand, war Anais ein Rätsel. Der Kleinen stand die Unterstufe auf die Stirn geschrieben, sie trug bunten Plastikschmuck und hatte sich ein Fake-Tattoo um den Nabel geklebt.
Christina bemerkte Anais’ Blick zu Sebastian, beugte sich an ihr Ohr und flüsterte: »Ella hat beim Volleyball erzählt, dass sie und Sebastian gevögelt haben. Oben im Weinberg. Warm genug war’s ja.«
»Sie lügt doch.«
»Glaubst du?«
»Glaubst du , sie würde drüber reden, wenn es wahr wäre?«
»Und was soll da bitte schön der Unterschied sein? Wenn ihre Eltern es mitbekommen, kriegt sie Ärger, so oder so.«
Christina war Anais’ beste Freundin – vielleicht ihre einzige wahre –, und beide wussten, mit welchen Sticheleien sie bei der anderen ins Schwarze treffen konnten. Sebastian war Anais’ wunder Punkt, und sie fürchtete, dass die ganze Schule darüber Bescheid wusste. Das hübscheste Mädchen der achten Klasse war unglücklich verliebt in den tollsten Jungen. Allen Übrigen machte das Hoffnung: Wenn nicht einmal sie bekam, was sie wollte, dann war es keine Schande, dass auch jeder andere jemanden anhimmelte, der völlig unerreichbar war.
Christina behauptete, dass Anais in spätestens ein, zwei Jahren alle Konkurrentinnen in Sachen Aussehen abhängen würde, als wäre Schönsein ein Sportfest, an dessen Ziellinieeinem vom Schuldirektor eine Urkunde und eine Packung Kondome überreicht werden würden. Dumm nur, dass der Direktor ihr Vater war und lieber Kondome essen als ihr welche in die Hand drücken würde.
Um keine weiteren Pferdestallgeschichten hören zu müssen, wollte sie gerade die Diskussion um Ellas Eskapaden vertiefen, als jemand vom anderen Ende des Rasens aus »Hey!« und »Alle mal herhören!« und »Das müsst ihr sehen!« brüllte. Ein Junge aus der Parallelklasse rannte auf sie zu, winkte wild und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er lieber lachen oder sich übergeben wollte.
Anais sah, wie Sebastian sich von Ella löste und aufsprang, fast als wäre er dankbar, dass ihm jemand einen Grund dazu gab. Den hätte er auch schon früher haben können, dachte sie. Aber so sollte es ihr vorerst auch
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