Kobra
sitzt ein geduckter Mann, der mich aus den Augenwinkeln ansieht.
„Geduckt“ ist genau das richtige Wort. Der ganze Mensch wirkt scheu, irgendwie ohne Individualität. Wenn er jetzt ginge, würde selbst ich ihn unter einer Menge anderer Leute nicht wiedererkennen. Er ist um die fünfunddreißig, unrasiert, hat einen Anzug an, der einmal anständig war, aber schon lange kein Bügeleisen mehr gesehen hat.
„Ihr Name?“, frage ich.
„Rolgers.“
Der Name ist genauso farblos wie er selbst.
„Herr Rolgers, ich habe ein paar Fragen an Sie.“
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll, ich finde einfach keine Worte.
Aber er kommt mir zuvor: „Chef, wenn es wegen gestern Abend ist, da müssen Sie wissen, dass mich keine Schuld trifft. Ich will Ihnen alles ausführlich erklären, und Sie werden selbst sehen!“
„Wegen gestern Abend, ja, nur aus einem anderen Grund, als Sie denken.“
„Wie?“
Ich bemühe mich, eine etwas allgemeinere Phrase zu wählen, um ihm vorzubereiten. „Es geht um ihre Frau“, sage ich. „Sie ... wir haben sie heute Morgen ohne Bewusstsein gefunden ...“
Ich sehe seine Augen. Sie weiten sich plötzlich, er fasst nach der Stuhllehne.
„... es geht ihr ziemlich schlecht, ich will sagen ...“
Er begreift die Wahrheit. Ein Augenblick, noch einer, und durch das Zimmer gellt ein wilder Schrei. Mit offenem Mund brüllt er wie ein verwundetes Tier, sein ganzer Körper zuckt.
„Genug!“, rufe ich und springe auf. Ich packe ihn an den Schultern und drücke ihn nieder. „Hören Sie auf, um Gottes willen!“
Er verstummt und sieht mich mit Augen an, die nichts sehen. Auf dem Korridor sind rasche Schritte zu hören, die Tür geht auf, einer der Wachmeister der Dienststelle streckt den Kopf herein. Ich gebe ihm ein Zeichen: Komm für einen Moment herein!
„Hören Sie auf!“, sage ich ihm. „Sind Sie ein Mann oder ... zum Teufel noch mal!“ Ich fülle ein Glas mit Wasser aus der Karaffe und gebe es ihm. „Trinken Sie!“
Er trinkt wie ein Automat. Langsam kommt er zu sich.
„Meine Amandine ...“, flüstert er tonlos.
Ich setze mich neben ihn, nehme ihm das Glas aus der Hand und versuche zu ihm zu sprechen: „Hören Sie, Herr Rolgers, was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Sie sind ein Mann, nehmen Sie sich zusammen.“
„Wie ...“
Ich kann ihm nichts erklären. In dieser Verfassung. Da macht er schlapp.
„Herr Rolgers“, sage ich, „am besten, Sie erholen sich ein bisschen, dann sehen wir weiter.“ Ich nicke dem Wachtmeister zu. „Oben, im Zimmer der Diensthabenden. Er soll sich ein bisschen hinlegen. Und du bleibst bei ihm, bis er sich erholt hat, du weichst ihm nicht von der Seite.“
Der Wachtmeister nickt ebenfalls. „Verstanden!“
„Herr Rolgers“, sage ich, „es wäre wirklich gut, wenn Sie sich ein bisschen erholen. Gehen Sie, in ein, zwei Stunden reden wir weiter und sehen, was wir machen. Gehen Sie mit dem Wachtmeister mit.“
Er steht auf. Seine Augen flackern.
„Ich bring ihn um!“, flüstert er. „Ich bin erledigt ... aber ich bring ihn um!“
„Wen?“
„Diesen Schweinehund! Er hat sie verlockt ... Autos, Blumensträuße ...“
„Wer ist er?“, bohre ich weiter. „Sagen Sie seinen Namen.“
Rolgers zwinkert ein paar Mal. „Seguin! Der Schweinehund Seguin!“
Ich merke, dass er gleich wieder losschreien wird, diesmal etwas gekünstelt.
„Hören Sie!“, sage ich. „Schluss mit dem Theater! Gehen Sie und legen Sie sich hin. Wachtmeister, bitte!“
Der Wachtmeister stützt ihn, und sie verlassen langsam den Raum. Ich gehe zu meinem Schreibtisch zurück und bleibe da ein, zwei Minuten stehen, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu denken, nur um ein bisschen abzuschalten.
Eins der Telefone klingelt. Maria ist dran.
„Dr. Bouché“, sagt sie. „Ich bin hier mit Herrn Panaridis. In einer Weile fahren wir zum Flughafen, um Herrn Antonio Delacroix abzuholen. Wann soll ich mich melden?“
„Nachdem Sie den Herrn untergebracht haben. Wenn Sie mich hier nicht antreffen, sagen Sie Sophie oder dem Diensthabenden, wo Sie sind. Am Nachmittag ist das Begräbnis, nicht wahr?“
„Ja.“
„Davor muss ich Herrn Delacroix unbedingt sehen.“
„Verstanden, Señor Inspecteur.“
Ich lege auf, weil in diesem Moment das andere Telefon klingelt. Einer meiner Mitarbeiter berichtet. Er hat ein paar Gespräche mit dem Ausland geführt, wie ich es ihm aufgetragen hatte,
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