Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Beweglichkeit. Für so ein Tier ist das ein harter Eingriff. Und es besteht ein gewisses Risiko, daß ich Nerven streife, die zu Lähmungen führen und seinen Zustand noch verschlechtern können. Vielleicht kommt er nie wieder auf die Beine. In manchen Fällen kann es besser für den Hund sein, wenn man die Natur ihren Gang gehen läßt.«
Die Phrasen prasselten auf ihn nieder wie ein Hagelschauer. Sejer versuchte, Zeit zu gewinnen, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken und seine Stimmbänder zu befreien. Langsam ging ihm auf, was der Arzt gesagt hatte. Ein Leben ohne den Hund konnte er sich nicht vorstellen. Ohne ihre wortlose Zwiesprache. Den schwarzen Blick. Den Geruch von feuchtem Fell. Die Wärme der Hundeschnauze, wenn er im Sessel saß und der Hund ihm seinen schweren Kopf auf die Füße legte. Der Tierarzt schwieg. Kollberg hatte sich hingelegt. Er brauchte die ganze Bank dafür.
»Sie brauchen das jetzt nicht zu entscheiden«, sagte der Tierarzt. »Fahren Sie nach Hause und besprechen Sie das mit sich selber und mit dem Hund. Und dann rufen Sie an. Und nur, um das gesagt zu haben. Hier gibt es keine richtige Entscheidung. Sie haben nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Das kommt vor.«
Sejer streichelte Kollbergs Bauch.
»Aber erfahrungsmäßig sind solche Knubbel oft bösartig?«
»Die Frage ist, ob Ihr Hund der Belastung standhalten kann.«
»Er war immer schon stark«, erwiderte Sejer trotzig wie ein Kind.
»Wie gesagt«, sagte der Tierarzt. »Lassen Sie sich Zeit. Er hat die Knubbel schon lange.« Danach saß Sejer im Auto und dachte: Er hat die Knubbel schon lange. Lag darin ein Vorwurf? War er so mit seiner Arbeit beschäftigt, daß er nicht mehr die Wesen sah, für die er verantwortlich war? Warum war ihm nichts aufgefallen? Er fühlte sich ungeheuer schuldig und mußte erst einmal nachdenken. Dann fuhr er langsam nach Hause. Auf wen nehme ich Rücksicht, wenn ich eine Operation verlange, dachte er. Auf Kollberg oder auf mich? Darf man denn jemanden, den man liebt, nicht behalten wollen? Soll ich ihn vielleicht wie das Tier behandeln, das er im Grunde ja ist? Das tun, was für ihn gut ist, und nicht an mich denken? Aber er fühlte sich von diesem zottigen Tier geliebt. Obwohl Tiere nicht lieben können. Er dichtete das alles in den Hund hinein. Zuneigung vielleicht? Darauf bestand er. Der ganze riesige Körper zitterte, wenn er die Wohnungstür aufschloß. Soviel Wachsamkeit, soviel Eifer, und ein Hundeherz, das nur für ihn schlug. Auf jeden Fall. Er schaute in den Rückspiegel. Kollberg rührte sich nicht.
»Was sagt dein Herz?« fragte Sara.
»Das ist ja wohl klar«, erwiderte er düster. »Ich würde ihm alles zumuten, um ihn noch ein paar Jahre behalten zu dürfen.«
»Dann wirst du die Operation riskieren«, sagte sie einfach. »Und zu dieser Entscheidung stehen, egal, wie alles ausgeht.«
»Soll ich einfach meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen folgen?« fragte er unsicher.
»Ja, das sollst du. Er ist dein Hund. Hier hast du zu entscheiden.«
Er rief den Tierarzt an. Während er dem Arzt zuhörte, versuchte er, aus dessen Stimme Zustimmung herauszuhören. Er glaubte sicher, daß der Tierarzt zufrieden war. Der Operationstermin wurde festgelegt. Danach kniete er neben dem Hund und bürstete dessen langes Fell. Er bürstete und bürstete mit langen Zügen und spürte dabei die Knubbel. Es quälte ihn, daß er sie erst jetzt bemerkt hatte. Sara lächelte ihn tröstend an.
»Kollberg hat doch keine Ahnung von deinen Schuldgefühlen«, sagte sie. »Er hat es gern, wenn ihm das Fell gestriegelt wird. Er liebt dich. Im Moment geht es ihm gut, er hat einen liebevollen Menschen, der sich um ihn kümmert. Er braucht dir nicht leid zu tun.«
»Nein. Ich tu mir nur selber leid«, flüsterte Sejer.
LINDA VERSUCHTE SEIT TAGEN,
Karen anzurufen. Karen ist nicht da, sagte die Mutter. Nein, ich glaube, sie ist gerade gegangen. Ich weiß nicht, wann sie wieder zu Hause sein wird. Etwas lief da ab. Sie verspürte eine tiefsitzende Angst. Sie und Karen waren immer zusammengewesen. Jetzt ging Karen ihr aus dem Weg und trat sich mit anderen. Mit Ulla und Nudel und der Clique aus der Kneipe. Linda war verwirrt und verängstigt, behielt aber noch einen letzten Rest Wut. Überall spürte sie, daß die Leute sie anstarrten. Was hatte sie denn falsch gemacht? Alles war in Ordnung gewesen, so lange sie nur das rote Auto gesehen hatte. Doch Gørans Namen zu nennen, das war zuviel
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