Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
Ikea-Hacking
Franz Liebl
Seit den wegweisenden Arbeiten von Schumpeter (1912/1987) gelten in der Ökonomie Innovationen als zentraler Motor wirtschaftlichen
Wachstums. Dabei unterscheidet die Innovationsforschung zwischen zwei grundlegenden Klassen von Neuerungen: einerseits Produktinnovationen,
vermittels derer neue Funktionalitäten realisiert werden, andererseits Prozessinnovationen, die über veränderte Produktionsweisen
zu Kostensenkung oder verbessertem Qualitätsniveau führen. Auch wenn in den letzten Jahren, insbesondere resultierend aus
der Verbreitung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, noch einige weitere Varianten – namentlich organisationale
Innovationen sowie Innovationen des Geschäftsmodells – ins Feld geführt wurden, so bleibt die Lokalisierung der Innovation
doch immer dieselbe: in den anbietenden Unternehmen.
Ebenjene Fokussierung erweist sich jedoch in zunehmendem Maße als Krisenherd, durch den Wettbewerbsvorteile unterminiert werden.
Denn die Konsumenten bergen nicht nur deswegen ein unliebsames Überraschungspotenzial, weil sie womöglich verständnislos auf
Funktionalitäten reagieren, die sich als Kopfgeburten von Entwicklungslabors erweisen; was von den Anbietern oftmals gar nicht
oder zu spät registriert wird, ist die versteckte und unberechenbare Innovationstätigkeit auf Seiten der Konsumenten beziehungsweise
User, die bereits Anfang der achtziger Jahre von de Certeau (1980) thematisiert wurde. In diesem Beitrag soll die Bandbreite
solcher Konsuminnovationen dargestellt werden, die von alltäglichen, beiläufigen Akten der Zweckentfremdung (Nicht Intentionales
Design, kurz NID) über Veränderungen zum Zwecke der Produktindividualisierung (
customization
) bis hin zu künstlerischen Strategien der Objekt-Modifikation (
Artistically Modified Objects
, kurz AMOs) reichen. Im Rahmen des Fallbeispiels Ikea soll gezeigt werden, wie die Angebote des Möbelhauses zum Gegenstand
von solch vielfältigen und subversiven Innovationsaktivitäten werden.
|34| NID und
Customization
: Konsumenten als Bastler
Anhand von umfangreichen Marktforschungen versuchen Produktentwickler und Marketingplaner, die Innovationen so weit wie möglich
berechenbar zu gestalten. Doch nach der bitteren Erfahrung der Hersteller gelingt dies vielfach nicht. Der Grund liegt nicht
zuletzt im unzulänglichen Verständnis von Konsum. Jener stellt nämlich, wie de Certeau in seinem berühmten Buch
Kunst des Handelns
(1980) feststellt, einen zweiten Akt der Produktion dar. Das heißt, erst in der Verwendung geschieht die praktische und symbolische
Interpretation des jeweiligen Produktes – und damit dessen endgültige Fertigstellung.
Abbildung 1: Adapting
(Quelle: Suri 2005: 105)
|35| Die Einsicht, dass es sich um einen Aneignungsprozess außerhalb der eigenen Kontrollsphäre handelt, ist für Hersteller außerordentlich
brisant, denn die Konsumenten verwenden die Dinge oftmals ganz anders, als es in der Gebrauchsanweisung steht und von den
Anbietern intendiert war. Die Zweckentfremdung (
détournement
), das heißt der kreative Missbrauch und die Umdeutung eines Produkts oder einer Marke, ist eine gängige Strategie der Verwender,
um mit den Widrigkeiten des Alltags oder der Einfallslosigkeit der Hersteller umzugehen. Hier agiert der Konsument letzten
Endes wie ein Bastler (
bricoleur
), der ideenreich mit seinen begrenzten Möglichkeiten operieren muss (vgl. Lévi-Strauss 1962). Doch in Wahrheit handelt es
sich, wie Dorschel (2002) theoretisch sinnfällig herausarbeitet, bei solchen unvorhersehbaren Gebrauchsweisen um eine »Zweckentdeckung«
und damit um einen Akt der Innovation (Abbildungen 1 und 2).
Abbildung 2: Provisorium
(Quelle/Foto: Thomas Meyer (Ostkreuz), http://provisorium.motorberlin.com, 03.06.2008)
Dieses Modifizieren und Umnutzen ist allgegenwärtig und oft gar nicht mehr als solches bewusst; es passiert beiläufig. Das
spiegelt sich in Etikettierungen wie »Nicht Intentionales Design« (NID; Brandes/Steffen/Stich |36| 2000; Brandes/Erlhoff 2006) oder »Intuitives Design« (Suri 2005). Die Bandbreite der Zweckentfremdung und des Bastelns ist
nahezu unendlich, angefangen von kleinen Alltagsproblemen bis hin zu gewagten, ja mitunter lebensgefährlichen Versuchsanordnungen
zu Zwecken des erotischen Lustgewinns (vgl. zum Beispiel Theimuras 1978; Ostermayer 1994).
Übertragen auf die symbolische Ebene äußert sich das
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