Korsar meiner Träume
auch etwas Schlaf zu bekommen, um dann später zurückzukommen und Vincent von seinen Pflichten abzulösen. Währenddessen hatte Claire gedöst, war aber nun wach geworden und sah, wie die Wolken sich von der Stelle verzogen hatten, wo der Mond am Himmel stand.
An Deck war es ruhig gewesen, und jetzt war es sogar noch etwas stiller. Als sie unter dem Rettungsboot hervorspähte, konnte sie niemanden sehen. Nicht einmal Vincent. Sie glitt unter dem Boot heraus und zögerte. Auf dem Achterdeck war keine Bewegung auszumachen. Claire ließ die Tasche dort liegen, wo sie lag, und schaute sich um. Vincent war nicht am Bug. Sie kroch in Richtung Heck, konnte aber auch dort weder Schatten noch Bewegungen erkennen.
Ihr Herz machte einen Satz, als sie das Pfeifen hörte, und sie erstarrte. Ihre Vernunft sagte ihr, dass ihr Verhalten lächerlich war. Sie tat ja nichts Falsches. Noch nicht.
Sie brauchte einen Augenblick bis ihr klar wurde, dass das Pfeifen nicht vom Deck kam, sondern vielmehr aus der Kombüse darunter. Ein Seufzer der Erleichterung entwich ihr, und langsam löste sie ihre zur Faust verkrampften Finger. Das Glück war noch nie ihr Verbündeter gewesen, und Claire hoffte, dass der Umstand, dass Vincent unter Deck war und Nate schlief, ein Zeichen war, dass ihr Schicksal sich wendete. Da sie nicht gewillt war, die Gelegenheit zu vergeuden, falls das tatsächlich passieren sollte, stahl Claire sich hinüber zur Kapitänsluke.
Ihr Herz schlug schnell bei dem Gedanken an das, was sie vorhatte, und ihre Handflächen waren plötzlich feucht. Sie wischte sie an ihrer Hose ab und packte den Handgriff. Claire biss sich auf die Lippe und öffnete vorsichtig die Luke. Zum Glück war Nates Schiff gut gewartet, und die Lukentür öffnete sich lautlos.
Kein Licht drang von unten herauf, und als sie lauschte, war das einzige Geräusch Vincents leises Pfeifen und das Flüstern des Windes, der durch die Segel strich. Claire schluckte heftig, schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Sie öffnete die Luke ein weiteres Stück und trat auf die Leiter.
Bei jedem Schritt nach unten hielt sie inne, um zu lauschen. Erst als sie weit genug drinnen war, um die Luke wieder zu schließen, konnte sie Nates tiefes, gleichmäßiges Atmen hören. Ihre Schultern entspannten sich. Er schlief. Die Luke schloss sich ebenso leise, wie sie sich geöffnet hatte.
Da es oben an Deck ebenfalls dämmrig gewesen war, mussten sich ihre Augen nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Claire entsann sich daran, was sie zuvor alles gesehen hatte und schlich in Richtung Koje. Sie hatte gehofft, sie würde auf Kleidungsstücke treten, denn das würde bedeuten, sie könnte ganz einfach in Nates Kleidern nach der Karte suchen, aber ihre Füße trafen bloß auf blankes Holz.
Sie wagte es nur, ganz kurz und flach zu atmen. Bald war sie neben dem Bett, ihr Herzschlag pochte laut in ihren Ohren. Es schien, als ob Nate einfach so eingeschlafen war, ohne es eigentlich zu wollen, da er vollständig angezogen auf den Bettdecken lag. Er hatte noch nicht mal seine Jacke ausgezogen.
Claire wischte sich die zitternden Hände an der Hose ab und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie konnte das hier tun. Sie musste das hier einfach tun.
Er schlief auf dem Rücken, und seine großen Hände lagen neben ihm. Der Kopf war leicht von ihr abgewandt. Der Teil von ihr, der sich daran erinnerte, was sie einander bedeutet hatten, oder wohl eher, was sie geglaubt hatten, einander bedeutet zu haben, wollte einfach nur verweilen. Der Teil wollte den Schwung seiner Augenbrauen nachzeichnen und seinen rauen Bart spüren, wollte noch einmal von ihm in die Arme genommen und geliebt werden.
Um Gottes willen, hör auf damit, schalt Claire sich selbst. Die Karte, denk an die Karte. Denk an die Lügen, den Schmerz.
Deshalb zwang sie sich, sein Gesicht nicht anzusehen. Sie streckte die Hand aus und ließ sie in seine Jackentasche gleiten. Ihre Finger stießen gegen das Papier, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte sie!? Langsam zog sie ihre Hand zurück. Als Nate sich nicht bewegte, stieß Claire zitternd den Atem aus.
Sie sah ihn noch einmal an, und einen Augenblick lang wünschte sie sich, die Dinge könnten anders sein. Aber da sie wusste, dass sie es nicht waren, es niemals sein konnten, trat sie einen Schritt von der Koje zurück, stopfte die gefaltete Karte in ihr Unterhemd und drehte sich zur Leiter um.
Sie kam bloß bis zu deren unterem Ende, als sie von hinten
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