Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
an diesem Prozess: Er läuft zwar ständig ab; die Folgen nimmt der Kranke jedoch in Schüben wahr. Fatal: Die Erkrankung entwickelt sich normalerweise in beiden Augen, oft aber nicht in gleichem Umfang und zur gleichen Zeit. Bis zu 16 Jahre können vergehen, bevor das andere Auge in Mitleidenschaft gezogen wird. Es gibt zudem zwei Verlaufsformen. 1. Die Veränderung bewirkt keine massiven Symptome. Der Zustand des Sehapparats muss dann nur kontinuierlich beobachtet werden. 2. Die Hornhaut verliert zunehmend an Stabilität und Durchsichtigkeit, wölbt sich immer weiter vor, bis sie so dünn ist, dass sie bricht und vernarbt. Die Sehschärfe des Auges ist dann auf Dauer beeinträchtigt – zum Teil ganz massiv.
Lena hat sich mit dem aggressiv fortschreitenden Prozess, der in ihren Augen stattfindet, längst abgefunden. Sie hat bereits alle Phasen der kegelförmigen Aus- und Vorwölbung ihrer dünner werdenden Hornhäute durchlebt. »Angst habe ich schon lange nicht mehr«, sagt die zierliche Frau. Durch ihre Krankengeschichte hat sie früh Erfahrungen gesammelt, die einem die natürliche Scheu nimmt, Experten zu widersprechen, ihre Therapien zu hinterfragen, sich das Fachchinesisch übersetzen zu lassen.
Bereits Ende der 1970er Jahre verschlechterte sich ihr Sehvermögen schubweise. Der Sehverlust begann mit 14, 16, 18 oder 20 Prozent. In immer kürzeren Abständen mussten ihre festen Kontaktlinsen dem Geschehen angepasst werden. Sie stützen die Hornhaut, verleihen ihr eine gewisse Stabilität und verlangsamen den Ausdünnungs- und Auswölbungsprozess erheblich. Bei Lena schien es jedoch schon 1981 so weit zu sein: Der leitende Augenarzt einer Ulmer Klinik, Professor Dr. S., sah keinen anderen Ausweg mehr als eine Operation. Lena M. packte also schweren Herzens ihr Köfferchen und erschien zum vereinbarten Termin. Doch der Operateur hatte sich in den Urlaub verabschiedet. Im Untergeschoss besah sich der Leiter der Augenambulanz, Dr. R., den Keratokonus. Er riet von einem Eingriff in diesem Stadium ab.
Lena akzeptierte und war froh, dass ihr die durchaus risikoreiche Hornhauttransplantation erspart blieb. Das fremde Gewebe kann vom neuen Körper abgestoßen werden. »Es war für mich wie ein Lottogewinn, mit Dr. R. zusammenzutreffen. Denn von da an erhielt ich eine optimale Versorgung mit Kontaktlinsen.« Um ganze 21 Jahre konnten Patientin und Arzt die letzte sich bietende Therapie aufschieben. Da die komplizierte Operation den Krankheitsverlauf nicht aufhält, bedeutet der Zeitgewinn ein längeres Leben ohne massive Sehbehinderung. Lena M., gelernte Erzieherin, konnte also zwei Jahrzehnte ihrer Tätigkeit als Sachbearbeiterin in einem Büro nachgehen, Auto fahren, Garten und Haushalt versorgen, ihre verschiedenen Ehrenämter wahrnehmen, wenn sie auch in immer kürzeren Abständen neue Kontaktlinsen brauchte, um noch die notwendige Sehkraft zu erreichen.
Dr. R. gründete 1982 zusammen mit seiner ersten Frau ein Institut für Kontaktoptik und ließ sich als Augenarzt in Ulm nieder. Er passte die Linsen den individuellen Veränderungen in den Augen seiner Patientin so an, dass sie ihr ganz normales Leben führen konnte. Nach 20 Jahren war die Instabilität der Hornhaut jedoch so fortgeschritten, dass sie zu reißen drohte. Ohne Linsen verfügten Lenas Augen noch über ganze fünf Prozent Sehkraft, mit Linsen immerhin 20 Prozent. Deshalb stellte sie sich im Herbst 2002 einem Augenchirurgen in München vor. Ihre Mutter hatte den Tipp gegeben.
Glück im Unglück: Sie traf auf einen Arzt, dem sie im Handumdrehen ihr Vertrauen schenken konnte. »Gar nicht lange überlegen, operieren!«, machte sie sich Mut. Im Frühjahr 2003 war eine Spender-Hornhaut gefunden. Klar, die Motorradsaison hatte angefangen, und sie gilt in den manchmal etwas hartgesottenen medizinischen Fachkreisen als »Organspenderhauptsaison«. Der Operateur stanzte die dünne Oberschicht aus ihrem linken Auge aus, setzte die präparierte neue ein und vernähte sie mit dem übrig gelassenen Rand der eigenen Haut. Ein Jahr dauerte es, bis die Teile zusammengewachsen waren. Da Lena mit dem rechten Auge nur noch schemenhaft sieht, saß sie neun Monate zu Hause und wartete auf den Tag, an dem ihr körpereigenes Scheibchen imstande war, eine Kontaktlinse zu tolerieren. Ihr Augenarzt optimierte die Schale. Ergebnis: Die Sehkraft kehrte fast vollständig zurück, lag bei 80 bis 90 Prozent. Ein unglaubliches Glücksgefühl stellte sich ein. Die langen 270 Tage
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