Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Schweregrad der Sehbeeinträchtigung klassifiziert. Die Kassen führen stets den Maulwurf-Passus – Sehschärfe darf mit Sehhilfe maximal 30 Prozent betragen – oder andere Sätze aus der Hilfsmittel-Richtlinie an. Die Speziallinsen bezieht der Arzt inzwischen meist aus dem Ausland, weil sich für deutsche Hersteller Einzelanfertigungen nicht mehr rentieren. Die Kassen haben Festbeträge mit den hiesigen Produzenten vereinbart. Aus Kostengründen liefern diese meist nur noch Standardware. Der Arzt muss für die Sehhilfen jedoch Vorkasse leisten, denn seine britischen oder Schweizer Lieferanten lehnen es ab, mit deutschen Krankenversicherern darüber zu streiten, ob und vor allem wann ihre Rechnung beglichen wird. Dr. R. blickt auf Außenstände von 20 000 Euro. Wie viele andere Kassen zählt auch Lenas Kasse zu den Schuldnern. R.: »Seit 2004.«
Die Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenversicherungen für ihre 144 000 Mitarbeiter sind von 1991 bis 2004 um 72 Prozent gestiegen, in Zahlen: von 4,7 Milliarden auf 8,1 Milliarden!
Der Start des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 hat den Praxisärzten überdies eine Honorarreform beschert. Die Quartalspauschale der Augenärzte betrug im ersten Jahr 18,42 Euro pro Patient. 2010 erhalten sie 22,04 Euro für drei Monate. Viereinhalb Stunden benötigt der Augenarzt im Durchschnitt für das komplizierte Anpassen der Kontaktlinsen – Untersuchen und Vermessen der Augen, Bestellen der Linse nach diesen Daten, Einsetzen, Anpassen, Messen der Sehstärke, Nacharbeiten der Sehhilfe, erneutes Messen. Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis die bestmögliche Sehkraft erreicht und der Tragekomfort gesichert ist. Sitzt die Linse korrekt, hält sie die Erkrankung auf.
Mit unter 5 Euro Stundenlohn kann der Doktor aber weder die Kosten seiner Praxis bestreiten – Gehalt der Arzthelferinnen, Miete, Nebenkosten, Investitionen in Apparate – noch ein eigenes Einkommen erzielen. Vor der Honorarreform hat er für die medizinische Kontaktlinsenanpassung jeweils 80 Euro erhalten. Damit scheffelte er beileibe keine Reichtümer. Dem Kleinunternehmen Praxis sicherte es aber die Existenz. Und was jetzt?
Dr. R. befasst sich seit Jahrzehnten vor allem mit schweren Augenleiden wie dem Keratokonus. Resignieren, aufgeben – solche Begriffe gehören nicht zum Wortschatz des Arztes aus Leidenschaft. Allerdings hat er die Reißleine gezogen, um nicht unverschuldet in die Schuldenfalle zu schlittern. »Enteignung« nennt er, wozu ihn die Gesundheitspolitik gezwungen hat. Seine Praxis ist mittlerweile Teil einer überörtlichen Gemeinschaftspraxis, in der er als Angestellter arbeitet.
Bei der Kassenärztlichen Vereinigung ( KV ) Baden-Württemberg hat er mehrfach beantragt, dass man seine Praxisbesonderheit »Kontaktlinsenanpassung« beim Verteilen des Honorartopfs berücksichtigt. Seit August 1982 besteht diese Besonderheit und ist auch nicht gekündigt worden. Auf Nachfrage haben ihm Mitarbeiter der ärztlichen Vergütungsverteilstelle ( KV ) mündlich geraten, er solle doch einfach mehr Patienten operieren. Dafür erhalte er deutlich mehr Geld. Auf keinem Auge haben sie erfasst, dass es doch wohl nicht darum gehen kann, maximale Kassengelder abzugreifen. Im Übrigen nehmen seine Praxiskollegen medizinisch notwendige Eingriffe vor. Nur wegen des Geldes zu operieren wäre menschenverachtend. Offiziell erhielt Dr. R. übrigens auch noch Bescheid. Der zuständige KV -Vorstandsvorsitzende teilte ihm mit, er erachte die Quartalspauschale für »konservativ« tätige Augenärzte zwar keineswegs für angemessen, die spezielle Tätigkeit des Arztes sei aber dennoch darin enthalten. Mehr Geld gebe es daher nicht.
Was ist mit den Patienten? Finden sie mehr Gehör? Dr. R. versuchte es, aber schließlich musste er seiner Patientin Lena doch eröffnen, dass er ihre Behandlung »trotz bestem Willen« aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr weiterführen könne. Zunächst war sie total geschockt. Doch die Argumente leuchteten auch ihr ein: Vor 28 Jahren erhielt ihr Augenarzt für die Linsenanpassung 181,22 DM , und die Kasse übernahm die Herstellerkosten der Linse von 640 DM . Das Honorar ist nun auf 22,04 Euro geschrumpft, bei den Sehhilfen von 280 Euro zweifelt die Kasse die medizinische Begründung an, stellt Anfragen, schickt Fragebögen, schaltet den Medizinischen Dienst der Krankenkassen ( MDK ) ein. Dieser meldet neue Bedenken an. Ums Geld scheint es dabei nicht zu gehen, denn das MDK
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