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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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Allgemeinmediziner-Gesellschaft bei der Weiterbildung dieser Primärärzte dabei. Die Fachgesellschaft liefert überdies die Leitlinien, nach denen diagnostiziert und therapiert wird. Wie frei sie von Einflüssen anderer Spieler am Pokertisch um das Gesundheitssystem sind, wird noch geklärt. Noch gibt es genug Ärzte, die gegenüber gefährlichen Einflüsterern kritisch eingestellt sind.
    Ach ja, Sophia Schlette hätten wir fast aus den Augen verloren. 2009 hat sie ein Sabbatjahr bei ihrer Stiftung eingelegt. Und? Wo war sie? Richtig, im Institut für Gesundheitspolitik des US -Rundum-Versorgers Kaiser Permanente, fungierte dort als internationale Seniorberaterin. Natürlich vergisst sie den alten Kontinent nicht und stellt im März 2009 in Berlin das »Bellagio-Modell« zur Primärversorgung vor, benannt nach dem Ort am Comer See, an dem sich 24 Experten aus neun Ländern erstmals trafen. Ihre Referenz: Sie müssen keineswegs Jahrzehnte in einer Hausarztpraxis Patienten behandelt, sondern Erfahrungen beim Einführen neuer Erstversorger-Projekte gesammelt haben. So formuliert die Bertelsmann Stiftung ihre Anforderungen an die Gruppe, zu der Prof. Gensichen aus Jena und Prof. Norbert Donner-Banzhoff von der Universitätsklinik Marburg gehört. Diese befindet sich im Besitz der Rhön-Klinikum AG .
    Welche neuen Erkenntnisse hat die Gruppe gewonnen? Mit Verlaub, so gut wie keine. Dafür greift sie bei ihren Forderungen zur Versorgung chronisch Kranker wieder auf den Leib- und Magenbegriff der US -Gesundheitsökonomie zurück: populationsorientierte Primärversorgung. Wie sieht diese aus: Gesundheitsmanagement wird für einen festgelegten Bevölkerungsteil betrieben. Das schließt Vorsorge für Gesunde ein. Die Behandlungsqualität wird mit Zertifizierungsverfahren gesichert. Leitlinien sollen auf evidenzbasierten Studien – also dem Nachweis der Wirksamkeit einer Therapie – beruhen. Die elektronische Patientenakte liefert die Krankendaten. Standardisiert sollten sie sein (Benchmark). Gesundheits- und soziale Dienste arbeiten Hand in Hand. Arzthelferinnen oder Krankenschwestern übernehmen medizinische Routinetätigkeiten. Qualitätszirkel und Fortbildung, Honorare in Form von Kopfpauschalen samt zusätzlicher Anreize ergänzen die Vorschläge. Unter Transparenz versteht man bei Bertelsmann übrigens nur Qualitätskontrolle wie in einem Produktionsbetrieb.
    Kennen wir diese ganzen Visionen, Konzepte und Vorschläge nicht schon? Aber sicher. Statt eines Kopfgelds für jeden Patienten einer Region (in den USA heißt das »Capitation«) erhalten Praxisärzte und Kliniken eben pro Kranken und Quartal oder Fall eine Pauschale. Haus- und Fachärzte treffen sich längst zu Qualitätszirkeln. Manche gib es seit Jahrzehnten. Sinnvoll ist allenfalls, dass sich alle Akteure des Gesundheitswesens in einer Region zusammenfinden, um Vorsorge und Versorgung abzustimmen. Was hindert die Krankenkassen daran, sich einzuklinken? Mit Pflege- und Sozialdiensten kooperieren niedergelassene Ärzte auch seit langer Zeit. Alle Beteiligten können in fast allen diesen Bereichen gewiss noch besser werden. Sie müssen darüber aber zunächst einmal nur miteinander reden. Von den übrigen Empfehlungen profitieren wenige, und das Geld fehlt dann für die Behandlung Kranker. Unternehmen, denen an ihren Mitarbeitern etwas liegt, haben, nebenbei bemerkt, Ruheräume eingerichtet, bieten Rückenschulung oder Bewegungsübungen an – selbst in der Nachtschicht. Da bedarf es keines Gesundheitsmanagers. Ein rühriger Betriebsarzt setzt das um, wenn er bei der Werksleitung Gehör findet.
    Wo stehen wir denn nun? E-Card, Fallmanager, Gesundheitscoach, Call-Center, Internet-Betreuung, Integrierte Versorgung ( IV ) und Disease-Management-Programme – die ganze Palette der gesundheitsökonomischen Maßnahmen, die von den einschlägig Voreingenommenen wie Monstranzen in der Prozession getragen werden – saugen Millionensummen aus dem System. Mit Brachialgewalt ging es in die falsche Richtung. Effizienzsteigerung? Ein Witz? Kosteneinsparung? Das Gegenteil ist der Fall!
    Transparenz und Qualitätskontrolle sind übrigens auch zwei Paar Stiefel. Offengelegt werden müssten im deutschen Gesundheitssystem vor allem die Finanzströme, die in unzählige Kanäle fließen statt in die Versorgung Kranker. Der ganze gesundheitsökonomische Klimbim gehört umgehend eingestellt. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und seine Länderkollegen haben die Pflicht,

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