Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
ihren Zustand bessern. Ärzte tragen das Risiko, mit ihrer Hilfe zu scheitern, weil Wissenschaft und Erfahrungen die Sicherheit nicht liefern, das dem Kranken Dienliche zu tun. Über Fehlentscheidungen müssen sie persönlich bei Betroffenen oder Angehörigen oder vor sich selbst Rechenschaft ablegen.
Nicht an Vorgaben gebunden zu sein gehört daher zu dieser Profession wie zu keiner anderen. Das ist fundamental. Dem Gesetzgeber ist dies bewusst. Er hat bereits vor 40 Jahren im ersten Paragraphen der Bundesärzteordnung zentrale Grundsätze festgeschrieben: »Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.«
Was ist heute davon übrig? Natürlich ist die Krankenversorgung eingebettet in unser Wirtschaftssystem. Doch setzt die Ökonomie, die sich mit Produktion, Verteilung und dem Konsum knapper Güter beschäftigt, den richtigen Rahmen? Natürlich muss ein Gesundheitssystem finanzierbar sein, insofern geht es um begrenzte Mittel und ihre Verteilung. Aber die Kategorien Konsum und Produktion passen nur sehr eingeschränkt dazu. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist durch staatliche Vorgaben zudem weitgehend reguliert. Die Tendenz: Was der Gesetzgeber noch nicht festgelegt hat, ist er dabei zu regeln.
Mit Begriffen wird dafür Druck erzeugt. Die »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen ist so einer. Zwar hat sie objektiv nie stattgefunden. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt – allen im Inland erzeugten Waren und Dienstleistungen – lagen die Gesundheitsausgaben in Deutschland 1995 bei 10,1, 1996 bei 10,4 Prozent und 2008 bei 10,5 Prozent. Dennoch verschafft die Debatte Betriebswirten Zugang zum System. Knappe Güter bedürfen des Wettbewerbs, erklären Gesundheitsökonomen. Die Politiker folgen ihnen und organisieren ihn. Beispiel: Krankenkassen. Was sie ihren Versicherten an Gesundheitsleistungen bezahlen müssen, hat der Gesetzgeber festgeschrieben. Bleiben Ende der 1990er und Anfang des neuen Jahrhunderts nur Beitragsunterschiede und Zusatzangebote. Also ermöglicht die Politik Betriebskrankenkassen, die Mitarbeiter eines oder weniger Unternehmen versicherten, sich allen Arbeitnehmern zu öffnen. Die Firmen hatten bei diesen Kassen auf möglichst geringen Verwaltungsaufwand geachtet, um ihren Kostenanteil an der Gesundheitsversorgung gering zu halten. Die Vorteile kommen den Betriebskassen jetzt zugute: Junge und gesunde Mitglieder anderer Kassen wechseln wegen der niedrigen Beiträge zum günstigeren Anbieter. Kostenlose Wellness-Angebote bieten zusätzliche Wechselanreize. Was Einzelne dabei sparen, geht dem Gesamtsystem an Einnahmen verloren. Die neuen Versicherten wollen aber auch betreut sein, also werden die Verwaltungen ausgebaut. Mit Beginn 2009 dreht die große Koalition den Kassen dann eine lange Nase. Der Gesundheitsfonds bringt den Einheitsbeitrag. Seither kämpfen die Kassen mit attraktiven Lockangeboten oder Verträgen mit speziellen Arztgruppen um Mitglieder. Interessant sind aufgrund der hohen Zuweisungen für Kassenmitglieder mit 80 Erkrankungen jetzt vornehmlich chronisch Kranke.
»Qualitätsmanagement« lautet das zweite Schlagwort. Wieder geht es dabei nicht um das Versorgen von Patienten, es geht dabei um das Managen. Um das Anwenden ökonomischer Instrumente. Kliniken und Arztpraxen sollen zum gleichen Preis vergleichbare Leistungen anbieten. Das nennen Ökonomen gerne »wichtigen Wettbewerb«. Nur verschweigen sie, genau wie die zuständigen Politiker, dass es sich dabei um einen unlauteren Wettbewerb handelt. Denn im Gegensatz zum niedergelassenen Arzt werden Krankenhäuser über eine duale Finanzierung mit Steuermitteln subventioniert. Beide, der niedergelassene Arzt und das Krankenhaus, werden jedoch mit Pauschalbeträgen abgegolten. Für die Krankenhäuser bedeutet dies: Möglichst viele Kranke, Fälle genannt, durchzuschleusen. Dauert ihre Genesung länger als durch den Festbetrag vorgegeben, erwirtschaftet die Klinik ein Defizit. Also heißt es: raus aus dem Krankenbett. Als »blutige Entlassungen« bezeichnen Insider Patienten, die eigentlich noch stationär hätten behandelt und ihre Genesung beobachtet werden müssen. Sogenannte Regelleistungsvolumen ( RLV ), eine Pauschale pro Quartal (für die ein Handwerker niemals kommen würde, um z.B. eine Waschmaschine zu reparieren), dominieren die Vergütung der niedergelassenen Haus- und Fachärzte. Das Honorar,
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