Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
schnell. Sie versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Ich bin allein erziehend.«
»Verstehe.«
Madelaine konnte keine Minute länger dort sitzen bleiben, konnte nicht ertragen, was sie in den Augen der Studienberaterin sah. Ihre Scham und ihr Schuldgefühl waren überwältigend. Sie sprang auf. »Ich werde das regeln, Vicki. Sie haben mein Wort darauf.«
Vicki nickte. »Supermutter zu sein, ist eine schwere Aufgabe, Madelaine. Es gibt mehrere hervorragende Gruppen, die Ihnen helfen könnten.«
»Danke. Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen.« Madelaine drehte sich mit einem letzten Nicken um und verließ das Büro. Als die Tür hinter ihr zufiel, schloss sie für eine Sekunde ihre Augen.
Wenn ihr Vater vielleicht ...
Sie stöhnte. Gott, sie wollte nicht an Linas Vater denken. Seit Jahren hatte sie ihn aus ihren Gedanken verdrängt. Und wenn die Erinnerungen manchmal spätnachts kamen, verdrängte sie sie mit einer kalten Dusche oder indem sie um den Block rannte.
Und das hatte auch funktioniert. Nach einer Weile hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, hatte ihn nicht mehr gebraucht oder sich nach ihm gesehnt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie fast vergessen, wie er ausgesehen hatte.
Dann hatte Lina angefangen, sich zu verändern. Diese Verwandlungen waren zunächst kaum erkennbar gewesen. Ein paar Löcher mehr in den Ohren, Löcher in ihren Levi's, dunkles Mascara um ihre wunderschönen blauen Augen.
Wie gewöhnlich hatte Madelaine das kaum bemerkt. Dann, eines Tages, hatte sie ihre Tochter angeblickt und ihn gesehen. Da hatte sie erkannt, was sie seit der Kindheit hätte sehen müssen. Lina war das Spiegelbild ihres Vaters, ein wilder Teenager, der sein Leben im Eiltempo auslebte, der rücksichtslos war und um nichts bat. Und Lina durchschaute ebenso wie ihr Vater Madelaines brüchiges Äußeres, sah die schwache Frau, die darin steckte. Eine Frau, die keine Vorschriften machen, die nicht einmal die einfachsten Bedingungen durchsetzen konnte. Eine Frau, die sich so verzweifelt nach Liebe sehnte, dass sie sich von Menschen fertig machen ließ.
Lina Hillyard nahm einen langen, in der Lunge brennenden Zug aus ihrer Zigarette und stieß den Rauch wieder aus. Er sammelte sich an der Windschutzscheibe und blieb dort hängen, wurde Teil der gewaltigen Wolke, die bereits im Auto hing. Durch reine Willenskraft unterdrückte sie ein trockenes Husten.
Sie rutschte unbehaglich auf dem schmalen Sitz umher, warf dem Jungen neben ihr einen verstohlenen Blick zu. Jett fuhr wie üblich zu schnell, hatte seinen Fuß auf das Gaspedal gepresst. In seiner freien Hand hielt er eine Flasche Jack Daniel's, die er seinen Eltern gestohlen hatte. Auf der anderen Seite neben ihr saugte Brittany Levin an einer Limone - mit der sie ihren Tequila abschloss. Alle lachten und redeten und sangen zu der Musik der Butthole Surfers, die aus dem Radio kam.
Der Song endete und ein langsamerer wurde gespielt. Jett fluchte laut und schaltete das Radio ab, fuhr dann an den Straßenrand und trat so heftig auf die Bremse, dass sie alle nach vorne geschleudert wurden. Linas Hand schoss instinktiv vor und schlug gegen die Windschutzscheibe. Ihre Zigarette fiel auf die Ablage und rollte auf den Lüftungsschlitz zu.
Die Türen des kleinen Datsun flogen auf und alle stürzten nach draußen. Lina griff nach ihrer Zigarette. Als sie sie endlich erwischt hatte, war die Clique bereits draußen, hatte sich unter einer riesigen Zeder in der Mitte der Lichtung versammelt.
Es war die Stelle, an der sie ihre Samstagnachtpartys feierten. Vergilbte Zigarettenstummel und Jointreste übersäten bereits den Boden neben leeren Schnapsflaschen und zerknautschten Zigarettenpäckchen. Jemand hatte einen Ghettoblaster mitgebracht und laute Musik dröhnte durch die Nacht.
Lina ließ ihre Zigarette fallen und trat sie mit einem Absatz aus, ging dann zu der Gruppe. Jett stand neben dem Baum und schluckte Jack Daniel's, als ob es Wasser sei. Der goldene Alkohol rann über sein Stoppelkinn und tröpfelte auf sein T-Shirt.
Sie hätte zu gern gewusst, was sie ihm jetzt sagen sollte -eben das Richtige, das ihn dazu brachte, auf sie zu schauen, sie zu sehen. So lange sie sich erinnern konnte, war sie verknallt in ihn. Er war so cool. Und sie hatten etwas gemeinsam. Jett war ohne Vater aufgewachsen. Lina war sicher, dass das etwas bedeutete - etwas Schicksalhaftes war -, dass ihre Leben so ähnlich waren. Aber er schien sie nie zu beachten. Keiner von ihnen tat
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