Krokodil im Nacken
knetete er Schachfiguren, mit Streichhölzern teilte er auf dem Tisch die dazu notwendigen Felder ein. Spielte Coswig Klavier, um mit Lenz zu singen, blies Hahne auf dem Kamm. Wollte kein anderer reden, erzählte er von sich.
In Eisenhüttenstadt war er aufgewachsen, in jener »in die Steppe geklatschten« Retortenstadt rings um das große Stahlwerk. In seiner Kindheit hieß sie noch Stalinstadt. Er lernte Dreher, interessierte sich für die FDJ-Arbeit, trat in die Partei ein, wurde FDJ-Sekretär und später auf die Parteihochschule geschickt. Nach erfolgreichem Abschluss bewarb er sich bei der Jungen Welt und wurde Redakteur. Ohne jedes Fachstudium, ohne journalistische Vorkenntnisse, letztendlich aber zu seinem großen Glück. »Wäre ich nicht Journalist geworden, säße ich nicht hier. Hab den Unterschied zwischen Theorie und Praxis studieren dürfen, in Betrieben, auf Baustellen, in den Ministerien. Einer mit Gewissen kann das nicht aushalten, deshalb wollte ich weg. Nicht etwa wegen meiner Verlobten.«
Hahnes Verlobte war ebenfalls Journalistin. Bei der WestBerliner Bild -Zeitung. Dort habe sie auch für ihn schon eine Stelle gehabt. »Irgendwo muss man ja anfangen.« Es war diese Verlobte, wie Hahne schon bald zugab, die ihm die dreißigtausend Westmark für die Fluchthilfeorganisation vorgeschossen und ihn für den Fall der Fälle über die Freikaufmodalitäten aufgeklärt hatte. Nun sorgte er sich um sie. Die Stasi hatte ihm Fotos gezeigt – aus ihrer WestBerliner Wohnung. »Also müssen se drin gewesen sein. Was, wenn sie Gitta eines Tages kidnappen und in den Osten bringen? Ist ja alles schon vorgekommen.«
Nach den hinter ihm liegenden anderthalb Jahren Untersuchungshaft traute Hahne seinen ehemaligen Genossen alles zu. »Seht euch die Geschichte an. So viel Heimtücke, Mord und Totschlag wie unter Stalin gab es doch sonst nur noch unter Hitler.«
Lenz war der Meinung, dass Hahne die Bedeutung seiner Verlobten überschätzte, Coswig stellte gleich die ganze »Foto-Safari« infrage: »Woher weißte denn, dass das die Wohnung deiner Verlobten war? Warste schon mal bei ihr? Die können doch alle möglichen Wohnungen fotografiert haben.«
Hahne: »Sie hatte mal Fotos mitgebracht … Außerdem hing im Hintergrund eine große Porträtaufnahme von mir, die sie selbst gemacht hatte.«
Coswig: »Könnte ’ne Fotomontage gewesen sein. Oder deine Flamme arbeitet selbst für die Stasi. Dann brauchste dich nicht zu wundern, weshalb du nur bis Schönefeld gekommen bist.«
Coswig mochte Hahnes Geschichten nicht. Auf seine »Vogelhändler-Storys« reagiert er nur mit Spott; Hahnes Absicht, die totale Konfrontation zu riskieren, um eines Tages doch noch in den Westen zu gelangen, verglich er mit dem Flug des Ikarus: Absturz vorprogrammiert.
Der selbstbewusste Hahne konnte über den Verdacht, eine Frau könnte ihm Liebe vortäuschen, nur lachen. Er nannte sich selbst einen geborenen Casanova, der sich mit Frauen auskannte wie Börsenhändler mit Aktienkursen. Zweimal sei er bereits verheiratet gewesen, dreimal verlobt. »Bevorzuge stets die seriöse Beziehung«, entschuldigte er den »Aufwand«. »Bei der Freundin stehste mit vor Kälte eingefrorenen Eiern unterm Fenster und machst Bitte-Bitte, bei ’ner festen Beziehung liegste im warmen Bett und brauchst nur zu pfeifen.«
Die Verlobte in WestBerlin sei denn auch nicht seine einzige aktuelle Beziehung und Informationsquelle gewesen, wie er Lenz schon bald darauf anvertraute, als sie mal wieder allein waren. Eine bereits vierzigjährige, allein stehende Anna-Karenina-Schönheit und ehemalige Mitarbeiterin im Ministerium des Inneren habe ihn bis zu seiner Verhaftung ebenfalls ganz gern pfeifen gehört. »Was meine Gitta nicht wusste, hat mir meine Moni erzählt.«
An manchen Tagen glaubte Lenz Hahne kein Wort, an anderen nahm er ihm alles ab. Weil Hahnes Dr.-Vogel-Geschichten ihm in den Kram passten. Weil er sich wünschte, dass alles so kam wie von Hahne vorausgesagt. Weil er dieses ewige Misstrauen inzwischen schon hasste.
Eines Nachmittags, wieder waren Breuning und Coswig zur Vernehmung, verriet Hahne Lenz, dass er fest davon überzeugt sei, dass Coswig ein ZI war. Lenz kannte dieses Kürzel nicht und Hahne klärte ihn auf: »ZI – das ist ein Zelleninformator. Die offizielle Bezeichnung für Spitzel. Klingt nicht so abfällig.«
»Und?« Lenz tat, als halte er so einen Verdacht für total abwegig. »Was soll denn so ein ZI herausfinden bei
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