Krokodil im Nacken
Verspürt er so etwas wie Heimatverbundenheit? Bedeuten ihm seine materiellen Errungenschaften etwas, als da wären Wohnungseinrichtung, Sparbücher, Kraftfahrzeug, falls er eines besitzt, eventuell auch das Grundstück im Grünen? Gibt es im nichtsozialistischen Ausland Verwandte, von denen ein Erbe zu erwarten ist; gar eines, das schon auf einem Konto festliegt und auf ihn wartet?
Ein halbes Jahr verging, sechs Monate, in denen nachgeforscht wurde, was dieser Manfred Lenz für einer war. Kollegen und Bekannte wurden befragt; sogar bei den Nachbarn wurden Auskünfte eingeholt: Führen die Lenzens eine glückliche Ehe? Vielleicht ist dieser Lenz ja froh, durch eine solche Reise nicht nur seinen Staat, sondern auch seine Familie loszuwerden. Haben wir alles schon erlebt.
Dann die freudige Überraschung – der Anruf von der Reisestelle: Der Pass liegt vor, der Reiseantrag darf gestellt werden.
Was war passiert? Hatte da irgendwer geschlampt – oder war er gar kein so unsicherer Kantonist, wie er immer von sich geglaubt hatte? Wenn er auch nicht in der Partei war, so war er doch in sozialistischen Heimen aufgewachsen und anderthalb Jahre lang ein so guter Soldat gewesen, dass sie ihn sogar auf einen Offizierslehrgang schicken wollten. Dank seines Vaters kam er aus der Arbeiterklasse, und hatte er nicht einen rasanten Aufstieg hinter sich? Auch seine Ehefrau war im Außenhandel beschäftigt und zu seinen einzigen Westverwandten – Schwager Jo einmal ausgenommen – hatte er schon seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Gut, er war kein hundertprozentiger Marxist, aber hundertprozentige Marxisten, die zugleich gute Fachkräfte waren, gab es nicht sehr viele. Und nicht zuletzt: Er hing an seiner Familie, der Manfred Lenz, nie würde er sie im Stich lassen; das war das starke Seil, das ihn an seine sozialistische Heimat band.
Gern hätte Lenz sich seinen Pass angeschaut, doch das war gegen die Bestimmungen. Das Kleinod blieb im Tresor der Reisestelle; erst kurz vor Antritt der Reise würde er es zum ersten Mal in den Händen halten.
Unternehmungslustig traf Lenz alle notwendigen Reisevorbereitungen, doch glaubte er nach wie vor nicht an seinen ersten Schmetterlingsflug. Was besagte denn schon ein Pass, den er nicht mal ansehen durfte?
Geplant war, dass er nicht allein flog – nur selten wurde so ein frisch geschlüpfter Kohlweißling mutterseelenallein in die große weite Welt hinausgeschickt –, ein Ingenieur aus Thüringen, Matthias Gruber, fünfundvierzig, ehemaliger, inzwischen schon etwas dicklicher Oberliga-Fußballer und Fachmann für Medizintechnik, der bereits vor Jahren einmal in Indonesien war, sollte ihn begleiten. Vorgespräche ergaben: ein sehr ruhiger, sympathischer Kollege.
Ein weiteres halbes Jahr verging, und Lenz lachte nur noch, wenn er das Wort »Indonesien-Reise« hörte. Da war wohl doch noch irgendjemand aufgewacht; diesen Lenz durfte man doch nicht ins »Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet« hinauslassen! Dann aber, ganz plötzlich, lag sie vor, die Reisegenehmigung. Er durfte sich schutzimpfen lassen und Besuchstermine vereinbaren, und einen Tag vor Reiseantritt bekam er seine Reisepapiere überreicht und auf der Außenhandelsbank die Reisedollars vorgezählt. Als Chef der zweiköpfigen »Delegation« hatte er die Reisekasse zu verwalten.
Berlin – Moskau – Singapur – Jakarta lautete die Reiseroute. Lenz hatte die Flugtickets in der Hand, seinen Pass mit Ausreise- und Einreisevisum und dem lustigen Stempel Gültig für alle Staaten und die besondere politische Einheit Westberlin , die Dollars und alle anderen notwendigen Papiere – und glaubte noch immer nicht, dass er von nun an ein Schmetterling sein sollte. Noch am Abflugmorgen sagte er zu Hannah, sie solle ihn getrost zum Abendbrot einplanen.
In der Interflug -Maschine, die Gruber und ihn nach Moskau brachte, gestand Gruber Lenz, dass er Flugangst habe. Aber hätte er eine solche Reise denn absagen dürfen? »Indonesien ist ein wunderschönes Land. Nur Inseln, Berge, Reisfelder, Dschungel und Strände.«
»Noch sind wir nicht weg«, lautete Lenz’ einsilbige Antwort.
In Moskau landeten sie auf dem Flugplatz Scheremetjewo II und mussten sich mit dem Taxi zum Flughafen Scheremetjewo I fahren lassen, was sie zuvor nicht gewusst hatten. Deshalb hatte ihnen niemand Rubel mitgegeben. Sie entlohnten den kahlköpfigen, zahnlosen, ewig neugierig lächelnden Taxifahrer mit einem blanken Dollar, und er starrte sie an, als hätte der
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