Kuessen gut, alles gut
»Das hier war früher mein Zimmer.« Sie strich mit der Hand über den Eisenrahmen. »Das Bett hat mal meiner Urgroßmutter gehört, und als Kind hab ich in diesem Zimmer viel Zeit verbracht. Viel Zeit allein.«
»Hattest du keine Freunde?«, witzelte Stella.
Sie nickte. »Doch, aber die haben alle in der Stadt gewohnt.« Sie kroch über das Bett, legte den Kopf auf das Kissen und streckte ihre langen gebräunten Beine aus. »Und bis in die Stadt ist es weit, wenn man zehn ist und nur ein Fahrrad hat.«
Stella zog das Laken gerade und legte ihre Sonnenbrille auf den Nachttisch. »Hattest du ein Hobby?«
»Schafe.« Sie gähnte. »Ich hab für die Landjugend Schafe und Kühe gezüchtet. Ich konnte es nicht erwarten, aus Lovett rauszukommen. Mit achtzehn bin ich weggegangen und nie richtig zurückgekommen.«
Stella streckte sich neben Sadie aus. Lag sie wirklich neben ihrer Schwester? Und fühlte sich wohl genug, um ihr zu gestehen: »Ich hab dich immer für perfekt gehalten, weil unser Vater dich geliebt hat. Ich dachte, wenn du hier mit ihm gelebt hast, musst du das perfekte Leben gehabt haben.« Wir wollen immer das, was wir nicht haben können , hatte Sadie gesagt.
»Nein. Ich hab Daddy geliebt, aber als meine Mom tot war, wusste er nichts mit mir anzufangen. Ich bin verwahrlost, bis ihm wieder einfiel, dass er eine Tochter hat, ein Mädchen, und dann hat er mich in die Benimmschule geschickt oder eine Klavierlehrerin nach hier draußen gezerrt oder die Parton-Schwestern gezwungen, mir Kochen und Wäschewaschen beizubringen.« Sie drehte den Kopf auf dem Kissen und sah Stella an. »Ich konnte schießen und geradeaus spucken. Am Morgen die Ställe ausmisten und am Nachmittag Sandwiches und Tee auf Moms Silber und Wedgewood-Porzellan servieren.« Sie lächelte. »Ich hatte keine Ahnung, was ich mal werden wollte. Ich brauchte lange, um es herauszufinden.«
Und sie hatte immer geglaubt, ihre Schwester wüsste genau, was sie wollte. Hätte immer ihren Platz auf der Welt gekannt. »Wie lange?«
Sadie grinste. »Dreißig Jahre.«
Das hatten sie gemeinsam, und Stella fühlte sich wohl genug, um zu sagen: »Ich hab immer das Gefühl, dass alle einen Plan haben außer mir.« Aber nicht wohl genug, um ihr von Carlos und Las Vegas zu erzählen. Vielleicht eines Tages. »Ich hab einfach immer gearbeitet. Wenn mir der Job nicht gefällt, such ich mir einen anderen. Aber ich bin jetzt achtundzwanzig. Ich brauche einen Plan. Ein Ziel.« Ja, sie musste es rausfinden.
»Ich habe viel Zeit und viel von Daddys Kohle ins Studieren investiert. Ich war auf vier Unis in vier verschiedenen Staaten, und erst mit dreißig wurde mir klar, dass ich Häuser verkaufen wollte. Das hat mich tausend Mäuse und hundertvierundsechzig Stunden gekostet. Ich fand es toll, die erfolgreichste Maklerin im Unternehmen zu sein und Leuten in den Arsch zu treten, die glaubten, dass sie es besser könnten, weil sie schon länger Häuser verkauften. Oder älter waren.« Sie grinste. »Männer.«
Stella lachte. »Männliche Barkeeper halten sich auch für sooo viel besser als weibliche. Das Einzige, was sie besser können, ist Bierfässer und Getränkekästen heben.«
»Du bist eine Spätzünderin so wie ich«, sagte Sadie und gähnte wieder. »Du hast noch ein paar Jährchen, um rauszufinden, was du mit deinem Leben machen willst.«
So wie sie. Achtundzwanzig Jahre lang hatte sie gedacht, dass ihre Schwester smarter, selbstsicherer und größer war als sie. Größer war sie eindeutig, aber selbstsicherer nicht. Waren sie sich wirklich ähnlich? Es war die alte Umfeld-kontra-Gene-Frage. Achtundzwanzig Jahre lang hatte Stella ihrer Schwester irgendwelche Eigenschaften angedichtet, obwohl sie eigentlich … pennte?
»Sadie?«, flüsterte sie. Statt einer Antwort drehte sich Sadie auf die Seite und zeigte Stella ihren Blondschopf von hinten. Stella streckte die Hand aus und berührte die Haare ihrer Schwester mit den sonnenhellen Strähnchen darin. Sie waren so unterschiedlich. Groß. Klein. Hell. Dunkel. Nicht nur in unterschiedlichen Staaten, sondern in unterschiedlichen Welten aufgewachsen. Und trotzdem … hatten sie auch Gemeinsamkeiten.
Stella zog die Hand weg. Sie hätte nie geglaubt, dass sie Sadie je kennenlernen würde, und nicht mehr an sie gedacht. Bis zu jenem Abend, als Beau auf Rickys Parkplatz aufgekreuzt war wie ein Spion.
Acht Tage. Sie drehte sich auf den Rücken, und die Augen fielen ihr zu. Noch vor acht Tagen hatte sie
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