Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
machen, dem niemand ansah, dass sie den ganzen Tag außer Haus gewesen war.
Sie klammerte sich am Fahrradlenker fest, lehnte sich gegen den Rückenwind, damit er sie nicht zu einem Tempo zwang, dem sie nicht gewachsen war, und stellte zufrieden fest, dass ihre Beine ganz von selbst liefen, wenn es ihr gelang, das Fahrrad auf der Spur zu halten. Es gab so viele Gedanken, die zu einem Ziel geführt werden mussten, da war es gut, dass sie sich nicht auch noch auf den Verkehr konzentrieren musste. Trotzdem fiel es ihr schwer zu erkennen, welche Überlegungen die dringlichsten waren. Niccolòs Besuch auf Sylt? Toves Verhaftung? Die Affäre zwischen Matilda Pütz und Klaus Matteuer? Wenn Fietje es auch für möglich hielt, dass es sich hier um Gemunkel handelte, war dieser Skandal für Mamma Carlotta einfach zu packend, um ihn ins Reich der Gerüchte abzuschieben. Wenn es nun stimmte, was Ludo Thöneßen behauptet hatte, was bedeutete das? Hatte es etwas damit zu tun, dass Corinna Matteuer sich heimlich am Dorfteich herumtrieb? Dass Wiebke Reimers von dort geflüchtet war, ohne es einzugestehen? Oder gar mit Dennis Happes Tod? Und dann Wiebkes Lebensbeichte! Der Tod ihrer Großmutter! Und die Geschichte des Mannes, der seine leiblichen Geschwister umgebracht hatte, die es in ihren Adoptivfamilien besser hatten als er! »Madonna!«
Mamma Carlotta konnte vor lauter Erschütterung nicht verhindern, dass der Wind das Rad packte, es herumriss, zu Boden warf und sie selbst bäuchlings auf den Speichen des Vorderrades landete, ehe sie sichs versah. Mühsam rappelte sie sich hoch und wuchtete das Fahrrad wieder auf seine beiden Räder. Bei diesem Sturm konnte ja kein Mensch in Ruhe nachdenken! Nur die Gedanken an Niccolò ließen sich nicht beiseiteschieben! Er war auf dem besten Wege, sie zu verraten! Der Plan, wie das verhindert werden konnte, hatte oberste Priorität! Sie schob das Fahrrad über die Westerlandstraße, hatte aber kurz vor der Einmündung in den Süder Wung noch immer keine Idee, wie sie ihren Platz im Herzen ihrer Enkelkinder verteidigen konnte. Die beiden opferten ihre gesamte Freizeit der Bürgerinitiative – und was tat ihre Nonna? Die Scham brannte auf ihren Wangen. Wenn sie sich nur vorstellte, dass sie zugeben musste, Niccolò zu dem Bistro im Gesundheitshaus verholfen zu haben! Halb Sylt würde sie nicht mehr in die Augen schauen können, wenn Niccolò Capella demnächst sein Bistro in Braderup eröffnete. Sollte sie dort jemals für einen Teller Pasta einkehren, würde man ihr an allen anderen Tischen den Rücken zudrehen. Aber dass sie bei ihm einkehren musste, war genauso gewiss, denn natürlich musste ein Familienangehöriger unterstützt werden, wenn er sich selbstständig machte! Wie sollte sie diese vielen Verpflichtungen nur unter einen Hut bringen?
E rik stand in der Küche und sah sich ratlos um. Sörens Gesicht war nicht minder hilflos. Zwar war die Dunkelheit noch nicht hereingebrochen, aber der Sturm trieb finstere Wolken über den Himmel, und so war es dämmrig in der Küche. Es kam Erik auch kühl vor. Der Herd war kalt, kein Topf, aus dem Dampf aufstieg, keine Pfanne, in der das Fett brutzelte, und vor allem keine emotionale Wärme, die jedem entgegenschlug, der von Mamma Carlotta erwartet wurde. »Wo mag sie nur sein?«
Sören zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich ist sie noch unterwegs, um Unterschriften zu sammeln.«
Erik stöhnte auf. »Ich kann es allmählich nicht mehr hören! Man kann doch nicht tagelang mit Unterschriftenlisten auf Achse sein! So viele Häuser und Einwohner hat Wenningstedt gar nicht!« Sören antwortete mit einem Grinsen, und Erik winkte ab, ehe sein Assistent etwas sagen konnte. »Ja, ich weiß. Sie lässt sich mit jeder Unterschrift eine Lebensgeschichte erzählen, hält Eheberatungen ab und gibt Empfehlungen zur Kindererziehung.«
Sörens Grinsen wurde breiter. »Ganz zu schweigen von den Ratschlägen in Liebesdingen, den Hausmittelchen gegen Krankheiten und den Rezepten, die sie unbedingt aufschreiben muss.«
Erik öffnete die Kühlschranktür und starrte die vielen Dosen, Schüsselchen, Tüten und Flaschen an, die dort immer standen, wenn seine Schwiegermutter auf Sylt war. »Der Doc wird ein üppiges Essen erwarten. Ob wir ihn anrufen und ihm sagen, dass daraus nichts wird?«
Er kam nicht dazu, den Gedanken in die Tat umzusetzen, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Haustür. Der Sturm fuhr mit Mamma Carlotta ins Haus, riss ihre ersten Worte
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