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Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Titel: Kurschatten: Ein Sylt-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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in die Küche trug, nahm sie einen tiefen Schluck, um ihre schwere Erschütterung einigermaßen in den Griff zu bekommen.

D irekt nach dem Aufwachen, noch bevor er aufgestanden war, merkte Erik, dass etwas anders war. Der Sturm war es, der sich verändert hatte. Er war nicht nur heftiger geworden, sondern hatte auch eine andere Stimme bekommen. Er pfiff und jaulte nicht mehr, er brüllte und raste nun wie ein Amokläufer über die Insel, der alles vernichten will, was ihm in den Weg kommt. Und das Schlimmste: Der Sturm hatte einen Verbündeten bekommen, auch das hatte Erik sofort gehört und sogar gerochen. Das Meer hatte sich dem Wind angeschlossen. Heute erwartete die Insel nicht nur einen Sturm, sondern eine Sturmflut. Das Meer schien näher gekommen zu sein, es war lauter als sonst, es dröhnte und tobte, Brecher donnerten auf den Strand, und Erik wusste, dass sie alles mit sich nahmen, was sie zu greifen bekamen. Wieder ein paar Meter der Insel, ein Stück des Kliffs, vielleicht ein paar leere Strandkörbe, hoffentlich keine Menschen.
    Das Schlimmste am Gebrüll des Sturms waren immer die winzigen Momente der Stille. Danach schien die Gewalt jedes Mal noch zerstörerischer zu sein, das Brausen noch gewaltiger.
    Er lauschte auf das Wüten und Schnauben vor seinem Fenster und hätte sich am liebsten unter der Decke verkrochen, wie er es als kleiner Junge getan hatte, wenn eine Sturmflut erwartet wurde. Aber heute hatte er keine Wahl. Erik stand auf und trat ans Fenster. Aufmerksam ließ er den Blick durch seinen Garten wandern. Hatte er alles gesichert, was in Gefahr geraten konnte? Beim Nachbarn fiel ein Stuhl um, dann taumelte ein Eimer durch den Garten, schlug hier und da an, wurde schließlich in eine Hausecke getrieben und dort gegen die Wand geschlagen. Immer wieder, wie eine Sturmglocke!
    Erik dachte an Corinna in ihrer einsamen Wohnung. Ob sie auch am Fenster stand? Von dort würde sie sehen können, wie das Meer sich gebärdete, würde beobachten können, wie die Wellen hinter der Konzertmuschel aufspritzten. Vielleicht schlugen die Brecher schon auf die Kurpromenade, dann würde die Feuerwehr längst ausgerückt sein, um das Schlimmste zu verhüten. Er lauschte. Ja, Martinshörner jagten bereits über die Insel, drangen durch das Schreien des Sturms an sein Ohr. Schließlich glaubte er sogar die Glocken der Friedenskapelle zu hören. Ob Corinna Angst hatte? Sie kannte das Meer, den Sturm, das Wetter auf Sylt. Aber nie war sie in ihrer Wohnung mit dem Anblick des tobenden Meeres allein gewesen. Ob er sie besuchen sollte, damit sie ihre Angst verlor?
    Und wie würde Wiebke auf die Sturmflut reagieren? Ob sie nun abreisen würde? Aber die Autozüge hatten ihren Dienst sicherlich längst eingestellt. Warum war sie überhaupt auf Sylt geblieben, wenn sie Dennis Happe und Sila Simoni auf dem Gewissen hatte? Um seine Ermittlungen zu beobachten? Um notfalls eingreifen zu können, wenn es gefährlich für sie wurde? Sie ahnte wahrscheinlich nicht, dass er ihr bereits auf der Spur war, hatte nicht gemerkt, dass sein Misstrauen geweckt worden war. Nur ganz kurz gab er sich dem Gedanken hin, dass sie seinetwegen geblieben sein könnte. Weil sie sich geküsst hatten und weil sie wirklich von der Liebe auf den ersten Blick getroffen worden war. Aber diese Idee schlug er sich unverzüglich wieder aus dem Kopf.
    Erik wandte sich vom Fenster ab und starrte die Tür seines Schlafzimmers an. Er musste bald zu einem Ergebnis kommen. Am besten heute noch. Was er gegen Wiebke in der Hand hatte, musste er zu Beweisen machen. So ungern er diese Aufgabe auch anging, es musste sein. Wenn sie wirklich die Täterin war, musste er sie überführen. Seine Gefühle für sie spielten dabei keine Rolle.
    Er ging ins Bad und starrte in den Spiegel. Aber was er sah, war nicht sein übernächtigtes Gesicht, sondern Wiebkes Lachen, all das Unbekümmerte, was sie ausstrahlte, die tanzenden Sommersprossen, die roten Locken, ihre strahlenden Augen. Vielleicht war es Zufall gewesen, dass sie den Stein aufgenommen hatte, und war nur in das Fenster gestiegen, weil eine Reporterin eben immer den Skandal witterte und stets das beste Foto haben wollte. Und die Anstecknadeln mit den Gesichtern von Matilda Pütz und Klaus Matteuer? Die Telefonnummer des Pflegeheims, in dem Corinnas Mann lag? Was hatten sie mit dem Tod von Dennis Happe zu tun?
    Er würde gleich Happes Adoptiveltern anrufen, um zu erfahren, ob er leibliche Geschwister gehabt hatte.

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