Lagrosiea - Die Silberhalle (German Edition)
Er sah sich um. Hier oben wirkte der Balkon sogar noch größer. Offenbar wurde er, bei gutem Wetter , als Aufenthaltsort für Liendras persönlichen Gäste genutzt. Lagon entdeckte die Tür, die ins Zimmer führte. S ie war nicht verschlossen. Lagon stieß sie auf und schlüpfte hindurch. Er befand sich in einem vornehm eingerichteten Wohnzimmer mit Kamin und einem weitläufigen, weichen Teppich. Es gab fünf Türen, die in angrenzende Zimmer führten. Die größte, zweiflügelige Tür war, wie Lagon vermutete, der offizielle Eingang zu Liendras Gemach, den die Besucher benutzten, die es nicht nötig hatten, durchs Fenster zu klettern.
Lagon untersuchte die anderen Räume. Das Zimmer, das dem Eingang am nächsten war, führte in ein Ankleidezimmer, in dem Liendra, wie es schien, den größten Teil ihrer Arbeit verrichtete. Gegenüber befand sich ein gekacheltes Badezimmer, dessen Mitte ein Schwimmbecken aus Marmor einnahm. Der Raum links vom Balkon führte in ein kleines Schafzimmer, dessen Unordnung Lagon verriet, dass Liendra es als einziges privat nutzte. Aber Lagons Aufmerksamkeit galt dem Raum links vom Balkon, denn aus diesem drangen Stimmen.
„Dies hier ist eins von unseren ausgefalleneren Modellen“, erklärte eine schnöselige Stimme , „die Farbe weicht e twas vom Klassiker ab. Aber weiß ist ohnehin schon länger aus der Mode.“
„Das ist wahr“, hörte Lagon nun Liendras Stimme. Sie klang auf beherrschte Art unschlüssig, als müsse sie eine wichtige Entscheidung treffen . „Auch der Schnitt gefällt mir. Aber es wirkt doch ein wenig schmucklos.“
Lagon überprüfte noch einmal seine Unsichtbarkeit und spähte dann in den Raum, nur um sich kurz darauf zu wünschen, es nicht getan zu haben. Mitten im Zimmer stand Liendra in einem wunderschönen, zartrosa Brautkleid und betrachtete sich in einem Spiegel. Ihr Haar war zu einem Kunstwerk geflochten, gekrönt von einem ebenfalls zartrosa Schleier. Liendra war gerade in einem Anprobetermin für ihr Brautkleid. Lagon hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um hier aufzutauchen. Der Mann neben ihr, eine sehr kleine und magere Person, hielt eine Schere in der Hand. Lagon wusste von ihm, dass er einer der bekanntesten Schneider der Stadt war. Er ging um Liendra herum und machte sich Notizen auf einem Klemmbrett.
„Das mit der Verzierung bekommen wir hin“, sagte er nun , „außerdem ein längerer Schleier und einige zusätzliche Muster, wenn ihr einen Moment wartet, werde ich das sofort erledigen, eure Hoheit.“
„Das wird nicht nötig sein“, antwortete Liendra gebieterisch , „ich denke, das sollte für heute reichen. Wir machen morgen weiter.“
„Gewiss“, kam es unterwürfig vom Schneider.
„Du darfst jetzt gehen.“
„Wie ihr wünscht, eure Hoheit“, rückwärtsgehend , und mit gesenktem Kopf , verließ der Schneider den Raum. Lagon schaffte es gerade noch hastig zu Seite zu treten, sonst wäre er überrannt worden, was sicher zu seiner Entdeckung geführt hätte, egal wie unsichtbar er war. Doch der Schneider verließ den Raum, ohne Lagon zu bemerken. Nun war er allein mit Liendra. Er hatte es geschafft und war bis zu ihr vorgedrungen. Sollte er sie einfach ansprechen? Das würde sie wahrscheinlich so erschrecken, dass sie nicht eben freundlich reagiert hätte, oder noch schlimmer, sie könnte schreien. Das würde dann die Wachen anlocken. Was sollte er also tun?“
„Und, wie gefällt dir mein Kleid, Lagon?“ , fragte Liendra unvermittelt.
Lagon wagte nicht zu atmen.
„Ich weiß , dass du hier bist. Du kannst dich ruhig zeigen.“
Lagon seufzte und nahm die Tarnkappe ab. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“
Liendra setzte ihr Lächeln auf, das ihr so gut stand. „Du warst schlau genug, die Sicherheitsmaßnahmen der Botschaftswache zu umgehen, aber meine Schutzmaßnahmen hast du übersehen. In diesen Zeiten muss man vorsichtig sein.“
„Welche Schutz…“
Aber Liendra kam ihm zuvor . „ Ich habe zwei Schutzzauber auf dem Balkon ein ge richtet. Als du auf dem Geländer warst, haben sie mich sofort gewarnt. Erst wollte ich den Eindringling gleich überwältigen, aber dann habe ich dic h erkannt und den Schneider weg geschickt.“
„Tut mir leid, dass ich dich gestört habe“, meinte Lagon.
„Ist nicht so schlimm. Dieser farbenblinde Schneider schafft es vielleicht, die Kleider der Diplomatenfrauen zu nähen, aber für Brautkleider fehlt ihm der Geschmack.“
Sie breitete die Arme
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