Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Verschmolzene noch Reste ihrer Persönlichkeit. Direkter Ungehorsam war ihnen nicht möglich, aber sie konnten Nutzen aus einem unzulänglich formulierten Befehl ziehen. Das galt vor allem dann, wenn es sich um einen ehemals starken Menschen handelte, und Genevieve Mars Wille war so stark, wie er zuvor selten einen erlebt hatte.
John hielt den Atem an und stieß die Tür auf. Die Hässlichkeit der Verschmelzung machte ihm schon lange nichts mehr aus. Als er die Kammer betrat, achtete er nur auf die Waffen des Geschöpfs darin: die drei langen, biegsamen, mit Dornen gespickten Anhängsel. Das pflanzliche Äquivalent einer Peitsche. Diese Peitschen arbeiteten hydraulisch und strafften sich, sobald sich ihre Gefäßbündel mit Flüssigkeit füllten. Die Flüssigkeitszufuhr war jedoch begrenzt, sodass die Peitschen nur zu einem verheerenden Schlag ausholen konnten. Wenn die Reserve verbraucht war, mussten sie sich vor dem nächsten Hieb neu formieren, und seine Erfahrung sagte ihm, dass die Zeit zwischen zwei Hieben fünfzehn Minuten bis eine halbe Stunde betrug. Fünfzehn Minuten. Ein kluger Mann konnte in fünfzehn Minuten eine Menge bewerkstelligen.
Das Journal lag auf dem Schreibtisch hinter der Verschmelzung. Spiders Köder.
John starrte die Verschmelzung an. Eins nach dem anderen. Zuerst musste er die Hydraulik der Kreatur erschöpfen. Er ließ die Knöchel knacken. »Gehorche. Du sollst mit deiner Peitsche vorsichtig das Journal aufheben und es vor mir auf den Boden legen.«
William betrachtete das schwarze Haar auf dem Griff seiner Zimmertür. Der alte Wein hatte es ganz schön in sich. Ihm schwirrte der Kopf. Er nahm das Haar fort und trat ein.
Drinnen sprang Gaston vom Stuhl.
»Tu mir einen Gefallen.« William wollte sich aufs Bett setzen. Im allerletzten Moment unternahm das kostbare Möbelstück einen panischen Versuch, unter ihm auszubrechen, er landete auf den Decken und nagelte das Bett mit seinem Gewicht am Boden fest. Was für ein Wein. »Lass deine Haare nicht an Türgriffen zurück. Oder an Tragebeuteln. Oder an Briefen.«
»Ich wollte lediglich zeigen, dass ich hier drin bin.«
William zog einen Stiefel aus. »Erstens hast du das Fenster aufgemacht, sodass es unter der Tür durchgezogen hat. Zweitens war der Türgriff noch warm. Außerdem –«
Der zweite Stiefel landete neben seinem Zwilling.
»Und …?«, wollte Gaston wissen.
»Ich hab dich gehört. Und gerochen.« William richtete seinen Blick auf den Jungen aus. »Du müsstest wegen der Magie deiner Großmutter eigentlich schlafen. Wieso bist du noch auf?«
Gaston biss die Zähne zusammen. »Ich will morgen mit Ihnen gehen.«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Du bist ein Kind. Morgen geht es um Leben und Tod. Das ist nicht so toll wie in den Büchern und Filmen, sondern die Hölle. Menschen werden verletzt und sterben, aber du wirst nicht dazugehören.«
»Aber ich bin stark! Ich bin schnell, kann klettern, knallhart zuschlagen und mit dem Messer umgehen …«
William schüttelte den Kopf.
»Er hat meiner Mutter ein Bein abgeschnitten!«
William sprang vom Bett. »Ich bin betrunken. Dieser verfluchte Wein hat mich erledigt, und ich sehe doppelt. Also los, zeig mir, was du draufhast.«
Gaston zögerte.
Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, wippte William ein bisschen auf den Ballen. »Weichei.«
Der Junge wurde knallrot. Er stieß sich von der Wand ab und stürzte mit ausgestreckten Händen vor. William packte seinen Arm, lenkte seinen Schwung ab, riss ihn aus der Luft und warf ihn herum. Gaston krachte auf den Boden und schlitterte gegen die Wand. William legte den Kopf schief und musterte ihn.
Der Kleine schüttelte sich und kam auf die Beine. Offenbar warf er die Flinte nicht so schnell ins Korn.
»Was ist los? Kannst du mich nicht umhauen? Dabei kann ich kaum stehen.«
Gaston fletschte die Zähne und sprang aus der Hocke. Der Kleine ist flink, dachte William, als er Gaston den Ellbogen ins Genick rammte. Der Junge streckte sich auf dem Boden aus. William trat ihm in die Nieren. Gaston ächzte.
»Was lernst du daraus?«, fragte William.
»Dass Sie besser sind«, knirschte Gaston und schlug nach Williams Fußknöchel.
William trat ihn noch mal. Gaston rollte sich zusammen und versuchte, Luft in seine Lungen zu pumpen.
»Lass dir Zeit. Geh nach Möglichkeit nicht zu Boden. Wenn doch, spann die Bauchmuskeln an, damit ein Tritt in die Eingeweide dich nicht fertigmacht.«
Endlich bekam der Junge wieder Luft.
»Was
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