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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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Erbdrostenhof.«
    »Du meinst, ich soll als Kellner arbeiten?«, fragte Marius. Eine ungewohnte Vorstellung.
    »So schwer ist das nicht. Es geht hauptsächlich darum, schnell zu arbeiten. Und freundlich zu sein. Da wird ziemlich was los sein.«
    »Das traust du mir zu?«
    »Na klar, warum denn nicht? Morgen Abend geht’s los. Die Schicht dauert sechs Stunden. Du verdienst acht Euro die Stunde.«
    Marius war überrascht. Das bedeutete, er würde sechsundvierzig Euro am Abend verdienen. Er dachte daran, was er gerade dem Taxifahrer gezahlt hatte. War das normal, zwei Abende zu knechten, nur um eine Taxifahrt zu begleichen?
    »Es ist ja nur, um ein bisschen Bargeld zu haben«, sagte Nathalie. Offenbar ahnte sie, was ihm durch den Kopf ging. »Wenn wir in Berlin sind, suchst du dir einen Job, bei dem du besser verdienst. Als BWLer hast du bestimmt andere Möglichkeiten als zu kellnern, oder?«
    Marius sagte nichts. Er hatte bislang noch nicht darüber nachgedacht. Der Gedanke, sich von seinem Vater und dem Unternehmen zu trennen, hatte alles andere beiseitegedrängt. Doch jetzt fragte er sich: Welche Art Job würde er überhaupt machen können? Er kannte keinen Kommilitonen, der neben dem Studium für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste. Die meisten stammten wie er aus finanzkräftigen Familien. Natürlich arbeiteten sie alle zwischendurch mal irgendwo. Aber meist waren das prestigeträchtige Auslandspraktika, oder sie jobbten als Hospitanten in namhaften Unternehmen. Alles Mögliche, um den Lebenslauf zu verschönern, aber nichts, womit man wirklich Geld verdiente.
    »Ich habe auch ein bisschen gespart«, fügte Nathalie hinzu. »Für den Anfang reicht es allemal. Das wird schon.«
    Mikey schien Gefallen an der Vorstellung zu finden, Marius eine Kellnerschürze umzubinden. Er grinste.
    »Du bist also dabei?«, fragte er.
    Marius gab sich geschlagen.
    »Also gut. Ich bin dabei.«
    Am nächsten Morgen war Marius allein in der Wohnung. Nathalie war in aller Herrgottsfrühe zur Uni gefahren, und auch Mikey hatte kurz darauf die Wohnung verlassen, um auf dem Stadtfest Weinzelte aufzubauen. Marius ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Er kuschelte sich an Nathalies Kissen und atmete ihren Duft ein. Aber schließlich schlug auch er die Decke zur Seite und stand auf. Er bahnte sich einen Weg zwischen herumstehenden Umzugskisten und brühte sich als Erstes einen Kaffee auf. Dann setzte er sich ans Fenster und blickte hinaus. Die Sonne schimmerte über den Dächern der Stadt. Alles war in warmes und helles Licht getaucht.
    Er fühlte sich seltsam heimatlos. Dabei hatte er endlich erreicht, was er wollte. Er hatte seine Familie hinter sich gelassen und war bei Nathalie. Doch ein Gefühl von Freiheit stellte sich nicht ein.
    Er dachte an die dunkle, schmutzige Hinterhofwohnung in Berlin. Da lauerte etwas in ihm, das jedes Freiheitsgefühl überdeckte. Es war Angst. Zukunftsangst.
    Seine Flucht würde fürs Erste mit einem sozialen Abstieg einhergehen, das war ihm klar gewesen. Er würde kein Geld haben und viel weniger Platz als bisher. Den Skiurlaub konnte er sich abschminken und ein eigenes Auto wohl auch.
    Alles kein Problem, hatte er sich gesagt. Das wird schon irgendwie gehen. Ist ja auch nur vorübergehend.
    Doch jetzt, wo es so weit war und es kein Zurück gab, drängte sich ihm die Frage auf: Was ist eigentlich, wenn dieser soziale Abstieg nicht vorübergehend ist?
    Er wusste nicht, wie die wirkliche Welt aussah. Das reale Leben jenseits der Villa seiner Eltern. Vielleicht hatte er ja außerhalb des Unternehmens gar keine Chance auf einen gut bezahlten Job. Bisher war er nie in die Verlegenheit gekommen, für Geld arbeiten zu müssen.
    Was, wenn diese Wohnung in Neukölln nicht Übergang, sondern Endstation wäre? Würde er sich in einem solchen Leben überhaupt einrichten können? Und würde die Beziehung zu Nathalie das überleben?
    Es war nicht gut, diesen Gedanken nachzuhängen. Doch in der Stille der verlassenen Wohnung war es wie ein Zwang. Stundenlang hockte er da, starrte aus dem Fenster und versank in seinen Ängsten.
    Irgendwann kam Mikey nach Hause und brachte Marius auf andere Gedanken. Sie saßen gemeinsam am Küchentisch, rauchten, tranken Kaffee und quatschten. Später kochte Mikey Spaghetti Bolognese, und danach gingen sie hinunter in den Park, legten sich in die Sonne. So schlenderte der Tag an ihnen vorbei, ohne dass die Zukunftsängste allzu übermächtig wurden.
    Später gingen Mikey und er zu Fuß in

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