Langenscheidts Handbuch zum Glück (German Edition)
Achtungserfolg – und ein veritabler Glücksmoment – war, dass wir die drei Sterne der Woche der Münchner »Abendzeitung« für ein Konzert erhielten. Aber nicht etwa für musikalische Qualität, sondern dafür, wie souverän wir reagierten, als im Flügel während des Konzerts eine Saite wegen Überbeanspruchung riss. Es war ein Stück Minimal Music, bei dem das hohe C eine Dreiviertelstunde lang als Puls angeschlagen wird.
So gingen wir ans Werk. Wir spielten mit Erwartungen und schlugen daraus avantgardistische Funken für die Moderne.
Was erwartet ein Konzertgänger von einem Stück? Dass man etwas hört.
Was taten wir? Wir führten immer wieder 4’ 33’’ von John Cage auf. Darin geht ein kleines Orchester mit Instrumenten auf die Bühne. Der Dirigent zählt an und hebt seinen Taktstock zu einem Allegro. Alle haben ihre Instrumente auf dem Arm, zwischen den Beinen oder am Mund – und nichts passiert.
Umso mehr im Zuschauer. Denn plötzlich nimmt er die gesamte akustische Umgebung als Musik wahr, wenn schon keine von der Bühne kommt. Autohupen, Räuspern, Schlüsselklappern, Stuhlrücken. Und überträgt die Tempoangabe des Dirigenten innerlich darauf.
Es folgen ein Andante und noch ein schneller Satz. Aber weiterhin Tacet, das akustische Nichts – oder eben alles.
Frenetischer Applaus. Jedes Mal.
Was erwartet ein Konzertpublikum, wenn Sänger Mikrofone an den Mund halten? Schöne Stimmen. Was boten wir mit unseren Kehlkopfmikrofonen? Flüstern, Schreien, Fauchen, Knarzen, Atmen, Pfeifen, Summen. In Dieter Schnebels »Maulwerke« wird die menschliche Stimme befreit. Jeder vokale Ausdruck – bis hin zum erotischen Stöhnen – wird zur Musik. Wir machten die Uraufführung und waren in aller Munde. Und entwickelten das Stück weiter – von New York bis Kalkutta.
Was erwartet der Musikfreund, wenn Instrumentalisten auf die Bühne gehen? Die gewohnten Instrumente des klassischen Orchesters. Mit was machten wir Musik? Mit Papier, das wir schlugen, zerknüllten, zerrissen. Mit Glas, als Rohre oder geribbelte Flächen, dem wir die schönsten Sphärenklänge entlockten, aber auch Geräusche wie die eines einstürzenden Gewächshauses. Mit Steinen, ganz meditativ in Kirchen gegeneinandergerieben oder -geklopft. Das Publikum war fasziniert von der Entgrenzung und Befreiung der Musik.
Was erwartet ein Publikum auf Konzertbestuhlung im Saal? Musik von der Bühne. Wir kamen mit unseren Instrumenten von hinten und von der Seite, wir wanderten durchs Publikum, verschoben Klangbilder von rechts nach links. Einmal bei der Biennale in Venedig hingen wir einen Konzertflügel mitsamt Schemel an die Decke des Saales.
Was erwartet der Konzertabonnent noch? Dass ein Konzert in etwa zwei oder drei Stunden dauert. Was taten wir bei Festivals wie der documenta oder dem Pariser Herbst? Tagelang durchspielen. Man konnte jederzeit dazukommen, auch um drei Uhr nachts, und auch jederzeit gehen. Wir erlebten Dankbarkeit in Reinform. Waren wir doch wie ein amerikanischer Supermarkt, der vierundzwanzig Stunden täglich geöffnet ist. Einmal, in der Nationalgalerie in Berlin, spielten wir eine Nacht durch und
ließen das Publikum auf Matten ruhen. Manche hörten zu, manche schliefen, manche träumten.
Unsere eigenen Erwartungen wurden ebenfalls total übertroffen. Wir wurden in die ganze Welt eingeladen, spielten in über fünfzig Städten, trafen die spannendsten Menschen und finanzierten nebenbei unser Studium.
Glück, wurde uns klar, ist kreativer Umgang mit Erwartungshaltungen.
Wenn Sie mal wieder am Leben verzweifeln, denken Sie an
… MICHAEL BECKEL
Er ist etwa vierzig, als es geschieht. Ein Verlagsmanager, sportlich, intelligent, erfolgreich. Bei einem Wettschwimmen am Mittelmeer stößt er mit einer Badeplattform zusammen und verletzt sich scheinbar nur an Hals und Schulter. Erst über zwanzig Stunden später schließt sich infolge einer inneren Verletzung seine linke Halsschlagader und ein Blutgerinnsel stoppt die Blutzufuhr zum Gehirn. Kurze Zeit danach ist er halbseitig gelähmt, kann nicht mehr richtig sprechen, schlucken, Arme und Beine bewegen.
Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Verbringt zwei Jahre in Spezialrehas und mit unterschiedlichsten Trainings in Deutschland und der Schweiz. Versucht Zentimeter um Zentimeter seinen Körper zurückzubekommen. Und schafft es! Die Beine funktionieren wieder, ein Arm auch.
Mit dem, was trotz aller Anstrengung nicht zurückzuholen ist, arrangiert er sich. Handys
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