Laubmann 2 - Bärenzwinger
Laubmann das Gefühl, daß sich jene andere Wirklichkeit auftat. Begriffe wie «Schein» und «Sein» schwirrten ihm durch den Kopf.
«Probenarbeit», meinte die Intendantin ohne größere Ehrfurcht.
In den vorderen Zuschauerreihen saßen der Regisseur und sein Assistent an einem Pult und beobachteten kritisch die Bühne, auf der einer der Schauspieler zu sprechen begann: «Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und verschlichtet…»
«Kommen Sie, wir wollen nicht stören!» Die Intendantin schob Laubmann hinaus und schloß die Tür. «Der ‹Götz von Berlichingen› wird demnächst gespielt. Ich geb Ihnen eine Freikarte, wenn Sie mögen.»
Philipp Laubmann strahlte.
«Gleich dort vorne war der Durchgang zur Loge, die E. T.A. Hoffmann in seinem ‹Don Juan› erwähnt.»
Sie verharrten tatsächlich vor einer Wand, die mit Garderobenständern verstellt war. Der Anblick war ernüchternd.
«Hätte man das nicht erhalten können? Diesen Zugang zur Welt der Poesie?» Es sah so endgültig aus.
«Eine Kostenfrage. Wir mußten sparen und hatten wenig Zeit. Aber ich habe selber nachgeforscht und alte Pläne gefunden, aus denen sich der hoffmannsche Durchgang erschließen läßt. Erstaunlicherweise im erzbischöflichen respektive diözesanen Liegenschaftsamt; denn die Pläne wurden im Jahr 1803 von einem Architekten namens Emanuel Nagl gefertigt, und der hat auch viel für die Kirche gearbeitet. Deswegen ist sein Nachlaß wohl ins kirchliche Archiv gelangt.»
Helen Winkels Termine drängten. Doch bevor sie sich von Dr. Laubmann verabschiedete, hatte sie noch einen Tip für ihn. «Mir fällt ein, daß ich im erzbischöflichen Liegenschaftsamt außerdem auf die Baupläne eines späteren Architekten gestoßen bin, August Friedrich Eschenbacher. Der könnte für Sie von Interesse sein. Er hat gleichfalls für die Kirche gebaut und zudem um 1900 für die Grafen von Hohenfranken auf der Babenburg.»
***
Die Kriminalkommissare Glaser und Lürmann durchstreiften am späteren Vormittag den Wald. Sie suchten oberhalb des Abhangs am Marcus-Grab nach Spuren des mitternächtlichen Anschlags auf Philipp Laubmann. Sie bezogen auch das Umfeld des Tatorts mit ein, ohne freilich das Waldstück zu verlassen. Denn sie waren darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen. Aus diesem Grund hatten sie darauf verzichtet, den Erkennungsdienst einzuschalten. Laubmann war ja weitgehend unbeschadet davongekommen, und sein Argument, den Täter durch Nichtstun beziehungsweise durch eine Beschränkung der Nachforschungen zu verunsichern, hatte letztlich sogar Glaser überzeugt.
In kürzester Zeit waren sie hinter der grob gezimmerten halbhohen Absperrung, die das abschüssige Gelände von einem Wanderweg trennte, fündig geworden. Der Steinbrocken, der auf die Grabplatte gefallen war und Laubmann dank der Warnung Lürmanns um Haaresbreite verfehlt hatte, war eindeutig von jemandem gelockert und über den Abhang hinabgestoßen worden.
Sie fanden einen sorglos zur Seite geworfenen Ast, der an einem Ende Kratzspuren aufwies. Diese rührten unzweideutig von dem Stein her. Im tiefen modrigen Laub, das den Boden über und über bedeckte, war erkennbar, wie der Ast als Hebel angesetzt worden war. Fußabdrücke bewiesen, daß sich jemand gegen das Gewicht des Steins gestemmt haben mußte. Leider hatten sich im Laub keine Sohlenprofile abgezeichnet, und Schnee war an dieser Stelle nicht mehr vorhanden. Wer auch immer für die Tat verantwortlich war, hatte also nicht übermäßig darauf achten müssen, Spuren zu vermeiden.
Eine der grundlegenden Fragen für die Kommissare war, ob die Person, die den Anschlag gegen Laubmann verübt hatte, identisch war mit der Person, welche die Schuld am Tode Forsters trug. Die Hinweise in dem einen Fall konnten für die Aufklärung des anderen dienlich sein, wechselseitig sozusagen. Sichere Schlüsse ließen sich allerdings in beiden Angelegenheiten nicht ziehen.
Glaser und Lürmann wollten innerhalb des Waldes den Abhang umgehen und nicht den einsehbaren Treppenweg neben der Zugbrücke benutzen, um hinab zum MarcusGrab zu gelangen. Sie sprachen möglichst leise miteinander. Es sollte ebensowenig unliebsame Zuhörer wie unliebsame Beobachter geben.
Lürmann ging voraus, weil er vertrauter mit der Gegend war. Gleichwohl mußte er auf seinen Weg aufpassen und vermochte sich nicht vollends auf die Komplexität seiner Gedankengänge zu konzentrieren.
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