Leo Berlin
Wie passte dieser Vorfall ins
Gesamtbild?
Er zweifelte nicht daran,
dass der Mord an Sartorius und der Überfall auf Leo zusammenhingen.
Fragte sich nur, ob der Täter Leo oder die Wohnung beobachtet hatte.
Vermutlich Ersteres, denn niemand hatte damit rechnen können, dass
die Polizei noch einmal in die Nussbaumallee zurückkehren würde.
Wer hatte davon gewusst? Eigentlich nur er selbst und von Malchow, aber
diesen Angriff traute er ihm nun doch nicht zu. Dann fiel ihm das Heft
ein, das er aus Leos Tasche gezogen hatte. Er würde es heute Abend
mit nach Hause nehmen und in aller Ruhe durcharbeiten.
Georg sah ihn mit großen
Augen an, als er auf den Balkon trat. »Es geht ihm schon besser, er
kann in ein paar Tagen nach Hause. Schön, dass du dich um Marie kümmerst.
Sie sieht schon richtig gesund aus.«
»Die Ärzte sagen,
sie wird bald entlassen.«
»Das freut mich
wirklich, Georg. Ist sicher ein bisschen langweilig so allein.«
Der Junge grinste verlegen.
»Na ja, ich hab jetzt meine Ruhe, aber sie fehlt mir schon.«
»Guten Tag, Herr
Walther«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und begrüßte
Ilse Wechsler. Ihre Wangen waren leicht gerötet, sie sah irgendwie jünger
aus als sonst.
»Guten Tag, Fräulein
Wechsler. Gut, dass Sie kommen.« Er berichtete, was geschehen war.
Sie sah ihn erschrocken an und schaute sich unwillkürlich um, als könnte
sie Leo irgendwo entdecken.
»Ich muss sofort zu
ihm.«
»Ich zeige Ihnen den
Weg. Georg, du bleibst noch hier, bis deine Tante wiederkommt, ja?«
Der Junge nickte beruhigend,
als wollte er sagen, ich habe alles im Griff. Robert steckte ihm heimlich
einen Groschen zu und zwinkerte ihm zu, bevor er Ilse zur Notaufnahme
brachte.
»Grüßen Sie
ihn von mir und sagen Sie ihm, ich werde heute Abend ein bisschen im
Schulheft lesen.«
Sie sah ihn verwundert an und
verschwand hinter der Glastür.
Er war noch einmal in die
Firma gefahren. Erst als er durch die verlassenen Korridore ging und der
Nachtwächter ihn fragend ansah, wurde ihm bewusst, wie spät es
war. Er schloss behutsam die Bürotür, als wäre sie aus
Glas. Allein sein, in Ruhe nachdenken.
Doch seine Gedanken
rasten, widersetzten sich jeder Ordnung. Er presste die Hände vors
Gesicht, aber wie bei einem Migräneanfall nützte es nichts, die
Augen zu schließen. Die Bilder tobten in seinem Kopf, blitzten auf
und verschwanden.
Sartorius, der sich über
den Terminkalender beugte. Der Verschlag im Hinterhof. Wechsler in der
offenen Wohnungstür, während er selbst in der Wandnische
wartete.
Viola, immer wieder Viola,
die ihn ansah wie einen Fremden. Und dann das Gesicht, das er nur flüchtig
erblickt hatte und das ihn seither verfolgte wie ein Gespenst aus längst
vergangenen Tagen.
20
Robert hatte es sich in
seiner kleinen Wohnküche gemütlich gemacht. Da er alleinstehend
war, brauchte er nicht viel Platz, und die schönen Wochenenden
verbrachte er ohnehin im Schrebergarten. Er stellte eine geöffnete
Flasche Bier auf die karierte Wachstuchdecke und setzte sich, wobei er
dachte, wie nett es doch war, bei der Arbeit mal ein gepflegtes Bier zu
trinken. Dann holte er das Schulheft aus der Tasche und schlug es auf.
Vorn hatte Leo das hauchdünne Blatt Papier mit den Notizen, das er im
Terminkalender gefunden hatte, hineingelegt. Robert platzierte Schulheft
und Blatt nebeneinander.
Aus dem Büro hatte er
noch Leos Aufzeichnungen zu den Initialen V. D. und die Niederschrift der
Aussage Frau von Dreesens geholt. Dieser Fall schien so weit klar. Der
Ehemann hatte seine masochistischen Neigungen ausgelebt, sich Sartorius
anvertraut, war später damit erpresst worden und hatte sich daraufhin
das Leben genommen. Ähnlich klar lag die Sache auch bei Verena
Moltke. Womit feststand, dass Sartorius in diesen beiden Fällen leer
ausgegangen sein dürfte. Ein Selbstmord und eine Familie, die keinen
allzu großen Wert auf den Ruf der Tochter und Schwester legte.
Wie kam es, dass nur V. M.,
V. D., P. W. und M. E. auf dem Blatt standen – hatte er nur bei
ihnen Erpressungsversuche unternommen? Oder waren es die »säumigen«
Zahler? Hatte er die erfolgreichen Fälle bereits ad acta gelegt?
Robert nahm das Schulheft und
schaute sich den Schlüssel an.
A – D
B – E
C – F
D – G
E – H
F – I
G – J
H – K
I – L
J – M
K – N
L – O
M – P
N –
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