Letzte Rache: Thriller (German Edition)
der Küche eine Sendung im Radio. Ich hab ein bisschen in dem neuen Buch von Roberto Bolaño gelesen – kennen Sie es?«
Roberto wer? Carlyle schüttelte den Kopf.
»Es hat neunhundert Seiten«, fuhr Mills fort, »und ich finde es ein bisschen anstrengend reinzukommen. Nach ein paar Seiten war ich müde, und ich muss das Licht vor zehn Uhr ausgemacht haben.« Er machte eine Pause, um das Gesicht auf eine Weise zu verziehen, die in Carlyles Augen gekünstelt wirkte. »Agatha bleibt oft länger auf als ich, deshalb war daran nichts Ungewöhnliches. Ich bin so um Viertel vor acht wach geworden, und als sie nicht da war, bin ich aufgestanden und hab sie gefunden … tot … und dann hab ich Sie angerufen.« Er schaute hoch und zuckte mit den Achseln. »Das ist alles. Ich weiß nicht, was ich Ihnen anderes sagen soll.«
Carlyle ließ ein paar Sekunden verstreichen. Das einzige Geräusch im Raum war das leise Surren des Tonbandgeräts. Er zählte im Kopf bis dreißig und wartete, um zu sehen, ob Mills sonst noch irgendwas von sich geben würde.
… 27, 28, 29, 30 …
Mills hielt den Blick auf den Tisch gerichtet und sagte nichts. Carlyle beschloss, noch dreißig Sekunden dranzuhängen.
… 58, 59, 60 …
Immer noch nichts. Die Anwältin machte mittlerweile den Eindruck, als habe sie alle Zeit der Welt. Schließlich sagte Carlyle: »Wie fühlen Sie sich?« Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er tatsächlich eine derart butterweiche Frage gestellt hatte. Er beachtete den überraschten Gesichtsausdruck der Anwältin nicht und starrte stattdessen Henry Mills mit Nachdruck an.
Von der Frage überrumpelt, dachte Mills eine Minute darüber nach. Carlyle konnte sehen, dass er mit seinen Gedanken rang und versuchte, sich eine ehrliche Antwort zurechtzulegen. Zum ersten Mal spürte er einen Stich Mitgefühl mit dem leicht derangierten Mann vor ihm. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass er völlig verzweifelt wäre, wenn jemand Helen den Schädel eingeschlagen hätte – selbst wenn er es selbst gewesen wäre, der ihr den Schädel eingeschlagen hätte. Ein Leben ohne seine Frau, so kam es ihm vor, wäre ein trostloses Leben. Er würde eine Art Zombie werden genau wie der Mann vor ihm.
»Ich weiß nicht«, sagte Mills schließlich. »Wenn man morbid genug ist, um sich diese Dinge vorzustellen, erwartet man vermutlich, dass sie dramatisch sind, herzzerreißend, eine Achterbahn von Gefühlen. In Wirklichkeit ist es ein sehr ermüdender, langweiliger Tag gewesen. Ich hätte mit dem Scotch aufhören sollen, wie Sie mir gesagt haben, Inspector.«
Carlyle deutete eine Verbeugung an.
»Ich weiß, ich sollte so etwas sagen wie: Die Wirklichkeit hat mich noch nicht eingeholt , aber was die ›Wirklichkeit‹ ist, wird sich noch zeigen. Agatha und ich waren fast vierzig Jahre miteinander verheiratet, wir haben keine Kinder, und unser Leben könnte als ziemlich«, er dachte über das richtige Wort nach, »autark betrachtet werden.«
Carlyle nickte, versuchte nachdenklich auszusehen, forderte ihn auf weiterzureden.
»Damit will ich nicht sagen, wir hätten nebeneinanderher gelebt – so war es nicht. Wir hatten ein sehr angenehmes gemeinsames Leben, in dem keiner von uns das Gefühl hatte, Zugeständnisse zu machen.« Tränen traten in seine Augen, und er bemühte sich darum, dass seine Stimme gleichmäßig klang. »Zu sehen, wie sie da auf dem Boden lag – das war sie nicht. Das war nicht real. Das betraf nicht uns .«
Carlyle wartete auf mehr, aber es kam nicht mehr. Er warf einen Blick auf die Anwältin, die über die einleitenden Bemerkungen ihres Mandanten verwirrt schien. War das ein Geständnis oder nicht?
Carlyle schaltete das Tonbandgerät aus und wandte sich wieder an Henry Mills. »Ich möchte, dass Sie eine Pause machen«, sagte er sanft, »und dann können wir es noch mal versuchen. Reden Sie mit Ihrer Anwältin hier. Sie wird wissen, was für Fragen im Einzelnen ich Ihnen stellen werde. Wenn Sie schließlich Ihre vollständige Aussage gemacht haben, wird es eine Weile dauern, bis wir das Beweismaterial gesichtet haben. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt – und das kann alles Mögliche sein –, das zur Lösung Ihres Falls beiträgt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, es mir zu sagen. Und wenn Sie dann Ihre Geschichte ändern möchten, können wir diese Angelegenheit schnell geregelt kriegen, und Sie können sich ausruhen.«
Er war fast wieder bei seinem Schreibtisch im dritten Stock angelangt, als er
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