Letzter Weg
erledigt hatte. Und dafür gab es Zeugen. Cathy hatte ihre Stimmen gehört, selbst vor dem Hintergrund des Meeres, des Windes, der Sirenen und des Geschreis. Eine Frau hatte allen erzählt, dass Kez unbewaffnet gewesen sei und nichts getan habe, das jemanden hätte provozieren können, als »dieser Mann« sie erschossen habe. Ein junger Hippie war in Tränen ausgebrochen, »weil dieser Wahnsinnige in die Menge geballert hat«. Er hätte alle töten können.
Nur dass Sam in Wahrheit ihr Dad war, der sanftmütigste Mann auf der ganzen, weiten Welt, der seine Frau, seinen Vater und seinen Bruder liebte – und sie. Und wenn Cathy den Beamten nicht alles erzählte, was sie wusste, dann bestand durchaus die Möglichkeit, dass Sams Probleme sich bis zu einer Mordanklage ausweiten könnten. Und das würde Cathy weder ihm noch Grace antun, weder Saul noch David oder ihrem ungeborenen Babybruder.
Cathy bezweifelte allerdings, dass mit dem Reden alles aus ihrem Kopf verschwinden würde. Es gab Dinge, von denen Cathy glaubte, dass sie noch immer da sein würden, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde.
Sie hatte Sams Zittern gespürt, als er sie gehalten hatte, und hatte seine Furcht gefühlt, und sie wusste, dass er sich so sehr ängstigte, weil er sie so sehr liebte. Das hatte Cathy so gerührt, dass sie ihm gesagt hatte, Kez habe es so gewollt: Sie hatte sterben wollen, nur noch weg von allem.
Doch Cathy hatte auch gesehen, dass Sam auf Kez’ Herz gezielt und den Abzug gedrückt hatte. Und das würde sie niemals vergessen und niemals verzeihen.
Aber es war nicht Sam, dem sie nicht würde verzeihen können. Es war sie selbst. Cathy Robbins Becket, stets die Überlebende. Immer war sie es, die zum Schluss noch weggehen konnte und blutige Fußspuren hinterließ.
Cathy hatte Kez Flanagan zu ihrer Familie gebracht, und deshalb war es ihre Schuld. Denn sie war naiv gewesen und hatte sich verzweifelt nach Liebe gesehnt. Deshalb war sie auch schuld daran, dass Saul schwer verletzt in einem Krankenhausbett lag. Und es wäre ihre Schuld, wenn Sam gefeuert würde oder sich gar Anklagen würde stellen müssen. Es war ihre Schuld, dass Grace vielleicht nicht ihren Mann an ihrer Seite haben würde, wenn das Baby geboren wurde.
Es war ihre Schuld, dass Kez tot war.
Und nicht darüber zu reden würde Kez auch nicht wieder in ihren orangefarbenen Shorts und den alten Nikes auf die Aschenbahn schicken und ihr Haar flattern lassen, während sie mit leichten Schritten dahinschwebte.
Nicht zu reden würde auch nichts daran ändern, dass Kez sich ihr Leben lang hässlich und verspottet vorgekommen war, was sie letztlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Sie war verrückt und böse gewesen, und sie hatte es gewusst und so sehr gehasst, dass sie zum Schluss nur noch hatte sterben wollen.
Also tat Cathy, was alle von ihr wollten, und redete.
117.
Es war neun Uhr durch, als Grace endlich ihre Stimme hörte.
»Gott sei Dank«, sagte sie.
Sie stand in der Küche. Plötzlich wurden ihr die Knie so weich, dass sie sich setzen musste. David war vor einer Weile gekommen und hatte ihr dringend geraten, ins Bett zu gehen. Sie hatte es ihm versprochen. Dann war er wieder gegangen, um Saul zu besuchen; doch Grace war noch immer nicht nach oben gegangen, denn Sam hatte ihr zwar gesagt, dass Cathy in Sicherheit war, aber solange sie, Grace, noch nicht mit ihr gesprochen hatte, zählte das nicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte Cathy.
»Nicht ich bin durch die Hölle gegangen«, erwiderte Grace. »Und ich werde dich auch nicht fragen, ob mit dir alles in Ordnung ist, denn ich weiß, dass es nicht so sein kann .«
»Ich weiß gar nicht so richtig, wie ich mich im Augenblick fühle«, sagte Cathy. »Ich bin schrecklich müde vom vielen Reden, bin aber auch froh darüber, denn so empfinde ich nicht so viel. Verstehst du?«
»Ja«, antwortete Grace. »Es tut mir leid um Kez.«
»Mir auch«, sagte Cathy.
Grace wollte sie nach Sam fragen, aber plötzlich schien die Tatsache, dass Sam Cathys vermutliche Geliebte erschossen hatte, eine Kluft zwischen ihnen zu öffnen, und sie hatte wieder Angst.
»Sam spricht gerade mit einem Anwalt«, sagte Cathy. »Und soviel ich weiß, sollen wir irgendwohin gebracht werden, um zu schlafen – zumindest wollen sie mich irgendwohin bringen. Was Sam betrifft, bin ich nicht sicher, aber er kommt schon zurecht, Grace. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich sollte zu euch rüberfahren«, sagte Grace. »Sam hat zwar gesagt, ich
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