Liberty: Roman
ein trockenes Handtuch aus dem Schrank zu holen. Springe einen Schritt zurück. Ein Tier? Irgendetwas Feuchtes ist unter meiner Fußsohle. Ein Skorpion?
»Iiihh!«, schreie ich. Ein Kondom. Schlaff. Auf dem Fußboden. Voll. Mutter kommt herein.
»Das ist doch nicht gefährlich«, lacht sie.
»Ihr könnt das doch nicht einfach liegen lassen. Wollt ihr, dass mama Brian da reintritt?«
»Nein, nein«, sagt Mutter. Ich gehe ins Bad. Also haben sie … am Nachmittag gevögelt. Das ist doch widerlich.
Mein Vater und Nannas Vater sind bei einer Besprechung in der Botschaft in Daressalaam. Ich gehe mit Mutter zum Abendessen bei Nannas Mutter.
»Kirsten«, sagt Nannas Mutter während des Essens, »könntest du dir vorstellen, den muttersprachlichen Dänischunterricht zu übernehmen?« Auf der ISM gab es früher zwei Nachmittage in der Woche Dänischunterricht, aber jetzt können sie keinen Lehrer finden. Ich halte den Atem an.
»Nein«, sagt Mutter, »nicht, solange Annemette so klein ist.«
»Danke, Schicksal«, sage ich.
»Wieso sagst du das?«, will Mutter von mir wissen.
»Ich will dich nicht als Lehrer«, erwidere ich. »Das wäre ziemlich merkwürdig.«
»Ja, dann wird es schwierig, zu schwänzen oder die Hausaufgaben zu vergessen«, meint Nannas Mutter. Dazu sage ich nichts. Ich werfe Nanna einen bösen Blick zu, weil sie die Geschichte komisch findet. Nach dem Essen gehe ich mit Nanna auf ihr Zimmer, um Musik zu hören. Sie legt eine Kassette mit ABBA ein. Ich sitze ein Stück von Nanna entfernt auf dem Bett – und wäre gern näher bei ihr.
»Wieso wollt ihr in einem Jahr schon wieder nach Hause?«, höre ich meine Mutter auf der Veranda fragen.
»Na ja, dann hat Nanna die achte Klasse beendet – das ist die letzte Chance für sie, um Dänemark ein bisschen näher kennenzulernen, bevor sie mit der Volksschule fertig ist«, antwortet Nannas Mutter. »Also, damit sie entscheiden kann, was sie mit ihrem Leben anstellen will. Und weiß, welche Wahlmöglichkeiten es gibt.«
»Soll sie nicht einfach aufs Gymnasium?«
»Schon, aber hier gibt es keinerlei Berufsperspektive. Es sind doch alles nur große Kinder. Hier haben sie keine Möglichkeit, zu erfahren, was sie mal werden könnten, wenn sie erwachsen sind.« Neben mir auf dem Bett zuckt Nanna die Achseln und seufzt.
»Die sind total damit beschäftigt, was ich mal werden soll«, sagt sie.
»Ist doch völlig egal«, erwidere ich. Wir sitzen jetzt enger beieinander – Bein an Bein. Wir unterhalten uns ein bisschen darüber, was wir werden könnten. Ihr frischer Duft steigt mir in die Nase – so nah bin ich ihr.
»Wollt ihr noch mehr Kinder?«, erkundigt sich Nannas Mutter auf der Veranda.
»Nein«, antwortet meine Mutter. »Jetzt ist es gut, wir müssen aufpassen.«
»Hoffentlich hast du genügend Nachschub mitgebracht, denn hier bekommt man nichts.«
»Ich glaube, es wird reichen«, erwidert Mutter und lacht.
»Was soll denn das heißen?«, fragt Nannas Mutter. Nanna ist auf dem Bett von mir abgerückt. Schluss mit Haut an Haut. Nun steht sie auf und geht auf und ab.
»Tja, ich bin zur Apotheke gegangen«, erzählt Mutter auf der Veranda. »Ich bin bewusst zu dem jüngsten männlichen Verkäufer gegangen und habe – laut – zu ihm gesagt: ›Ich hätte gern vierhundert Kondome.‹« Meine Mutter lacht. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen – feuerrot!« Draußen lachen sie. Nanna steht mit dem Rücken zur Tür.
»Ich will eine Cola«, verkündet sie und geht in den Flur. Mist.
Marcus
SPIRITUELL
Babylonische Katastrophe. Bob Marley ist tot: 6. Februar 1945 – 11. Mai 1981. Exodus von diesem Staub und Blut. Es war Krebs, schreibt die Daily News , erst sechsunddreißig Jahre alt. Spirituell sind wir amputiert.
Die europäischen Menschen versuchen auch, spirituell zu sein. Die Schweden glauben, das gefährliche Pulver sei in Afrika außer Reichweite, aber Mika kann einem das Ohr abschwätzen, bis alle tun, was er will. Brown sugar gibt es – man kann es in allen größeren Städten wie Arusha kaufen. Es kommt aus Indien und Pakistan, und Mika kennt große Schüler auf der ISM – wahindi –, die es ihm beschaffen, weil ihre Väter immer Geschäftsleute mit Import/Export sind. Mika hat eine Antenne für Ärger. Ich weiß es, denn ständig will er sich prügeln. »Das ist nur zum Spaß«, sagt er, und das verstehe ich nicht. Wenn niemand zusieht, zieht er das Pulver in die Nase und dreht durch. Er hat den ganzen Tag lang aufgerissene
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