Liberty: Roman
bestellen. Alles ist so weit ganz ruhig und friedlich, aber ich spüre, Mutter ist kurz davor, zu explodieren. Sie wendet sich an Léon. »Na, wie behandelst du deine Arbeiter oben auf der Farm?«, fragt sie in einem beiläufigen Tonfall.
»Gut, glaube ich«, erwidert Léon.
»Schlägst du sie?«, erkundigt sie sich mit unschuldiger Stimme.
»Aber nein!«
»Aber die Neger arbeiten doch eigentlich besser, wenn man sie schlägt, oder?«
»Was meinst du damit?«, will Léon wissen.
»Unsere Feldarbeiter werden ständig geschlagen. Heute hat sogar einer Prügel mit einer Eisenstange bezogen.«
»Sag deiner Frau, dass sie sich beruhigen soll«, sagt John zu Vater.
»Ich sitze hier, direkt neben dir«, wendet sich Mutter an John. »Und ich muss mich überhaupt nicht beruhigen.«
Vater redet Dänisch mit ihr: »Kirsten, lass doch.«
»Nein, ich will nicht«, antwortet sie auf Dänisch und erklärt John auf Englisch: »Du bist ein kranker, perverser Sadist.« Miriam und John stehen auf.
»Du nimmst diesen Hund besser an die Leine«, sagt John zu Vater und verlässt die Messe. Vater seufzt.
»John ist ein Schwein«, sagt Mutter auf Englisch zu Léon.
»Hat er einen Arbeiter mit einer Eisenstange geschlagen?«
»Acht Stiche an der Kopfhaut. Ich habe den Mann selbst genäht.«
»Aber das ist ja schrecklich«, sagt Léon.
»Ja«, schaltet sich Vater ein. »Aber ich weiß nicht, wie wir damit umgehen sollen.«
»Ihr müsst euch bei der Leitung beschweren.« Léon sieht Mutter an. »Dieser Ansicht bin ich auch«, erklärt sie. Ich sehe mir Léon an. Redet er ihr nach dem Mund, oder was geht hier vor?
Endlich fängt die Schule wieder an. Ich sehe sie auf dem Flur.
»Samantha, hej!«, rufe ich ihr zu und lächele. Sie sieht gut aus.
»Ich bin sauer«, sagt sie und geht weiter. Ich bleibe stehen und starre auf ihren wippenden Hintern. Was soll ich machen? Ich gehe in die Bibliothek. Shakila sitzt an einem Tisch und liest. Sie notiert sich etwas auf einem Block und steckt den Bleistift in ihre große Afro-Krause, während sie weiterliest. Wenn sie etwas unterstreichen will, zieht sie ihn wieder heraus. Sie ist unglaublich hübsch. Ich würde gern etwas zu ihr sagen, aber ich weiß nicht, was. Ich suche Jarno, und wir gehen ins Maisfeld hinter dem Speisesaal, um Zigaretten zu rauchen.
Am nächsten Morgen soll ich mit Vater zur Simba Farm am West-Kilimandscharo fahren, um bei Léon Wauters Roggenmehl zu holen. Ich schaue nach Annemette, die auf dem Sofa liegt und mit ihren kleinen dicken Beinen in der Luft strampelt.
»Grüß ihn, er soll bald mal wieder vorbeischauen, um mit uns Golf zu spielen«, sagt Mutter. Ich gehe aufs Fabrikgelände, um Vater abzuholen. Er ist mit dem Auto dorthin gefahren, weil er sich einen Sack Zucker für Léon aufladen lassen will. Alle leitenden Angestellten machen es so. Ihre Wagen werden nie von den Wachen kontrolliert, und Zucker ist Mangelware. Wenn man andere Mangelwaren will wie Autoreifen, Butter oder Sahneeis, dann reicht das tansanische Holzgeld nicht aus – man muss mit irgendetwas tauschen.
Emmanuel hat mir erzählt, dass die Arbeiter in der Fabrik zusätzlich zu ihrem Lohn zwanzig Kilo Zucker im Monat bekommen. Sie verkaufen ihn oder tauschen ihn gegen andere Waren. Die Feldarbeiter bekommen keinen Zucker. Sie dürfen nur Zuckerrohr kauen, um an den süßen Juice zu kommen – damit sie nicht spüren, wie hungrig sie sind. Morgens essen sie Maisgrütze, abends essen sie Maisgrütze, mittags gibt es nichts.
Ich finde Vater in der Packerei.
»Hast du den Zucker?«
»Ja, ist erledigt.«
»Du bestiehlst den tansanischen Staat«, sage ich, um zu hören, wie er reagieren wird. Vater zeigt auf eine Maschine.
»Siehst du diesen mechanischen Arm, der quer über das Transportband ragt?«
Ich nicke.
»Er registriert, wie viele Säcke auf dem Band ins Lager befördert werden. Dann wird der Arm angehoben, und eine bestimmte Anzahl Säcke läuft durch, ohne registriert zu werden. Auch auf den Lastwagen gibt es Schwund. Alle sind daran beteiligt. Die Leute in der Packerei, die Torwache, der Lastwagenfahrer, wer auch immer«, sagt Vater.
»Und du.«
»Ja, ich weiß. Gut ist es nicht.«
Wir fahren von Moshi nach Sanya Juu und weiter in den West-Kilimandscharo. Die Farm liegt nur einhundertzehn Kilometer von Moshi entfernt, aber die ungeteerte Straße ist wie Schmierseife, weil es in der Nacht geregnet hat.
Wir liefern unseren Zucker ab und bekommen ein paar Säcke Roggenmehl,
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