Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
ungewöhnlich.“
„Und das gruselt dich?“
Sie hielt seinem prüfenden Blick stand. „Ja.“
„Das tut mir leid“, lächelte er überlegen und sah wieder nach vorn. „Dies war nicht meine Absicht.“
„Und wie sind deine Absichten?“ Plötzlich schwang etwas Trauriges in ihrer Stimme mit.
Er überlegte. „Ich möchte versuchen, ehrlich zu dir zu sein.“ Das war die Wahrheit und es wurde Zeit dafür.
Elín schnaufte. „Dann fang doch mal damit an, mir zu erklären, warum du mich allein gelassen hast, nachdem … Du weißt, was ich meine.“
„Ja.“
Sie kamen an den Rand des Parks und blieben stehen. Der Abend war fortgeschritten. Doch wie für einen Samstag üblich tummelten sich überall Menschen. Auf den Straßen herrschte Stau. Die Nacht vibrierte voll Leben.
Ju bog nach links ab und schlenderte den Fußweg hinunter. Nachdem Elín sich an den Trubel gewöhnt hatte, holte sie wieder zu ihm auf.
„Wir hatten eine Unterhaltung geführt, bevor ich verschwunden bin“, begann er.
„Unterhaltung? Ich habe erzählt und du bist zur Salzsäule erstarrt. Da gab es nicht viel zu unterhalten.“
Er nickte. „Du glaubtest, meine Schussverletzung geheilt zu haben.“
Elín kniff die Augen zusammen und vergrub ihre Hände in den Anoraktaschen.
„Ich glaube das auch“, gestand er.
„Was? Ist das denn möglich?“
„Ja, ist es. Jede Akkadia besitzt eine außergewöhnliche Gabe, manche ähneln sich, andere sind vollkommen einzigartig. Du bist eine Heilerin. Du trägst ein derart starkes Licht in dir, das es dir ermöglicht, andere Akkadier durch die Kraft der Sonne zu heilen.“
Sie zog ihre Hände wieder vor und betrachtete die Innenflächen fassungslos. „Aber ich hab keine Ahnung, wie ich das angestellt habe.“
„Diese Kraft zu kontrollieren, wirst du erst nach und nach lernen. In jenem Augenblick hattest du vermutlich solche Angst, dass deine Bestie dir zu Hilfe gekommen ist.“
„Wahnsinn.“
„Das Problem war nur“, er brach ab und überdachte seine Wortwahl, „dass ich in jenem Moment nicht geheilt werden wollte.“ Ju blickte zur Seite und sah sie an. „Ich wollte sterben. Und als ich erfuhr, dass du es verhindert hast … Ich brauchte einfach ein paar Minuten.“
Elín blieb stehen und starrte ihn an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Was ist?“
„Was los ist?“, rief sie und gab sich alle Mühe, dass die Tränen nicht überliefen. „Sterben zu wollen, ist sehr traurig, Ju!“ Ihre Stimme ähnelte der eines verängstigten Kindes. Als hätte sie soeben erfahren, dass es die Monster unter ihrem Bett tatsächlich gab.
„Ja, das ist es wohl“, gab er nachdenklich zu.
Der Akkadier ging weiter, schaute zu Boden und verschränkte seine Hände am Rücken.
„Du wolltest zu ihm.“ Sie sagte es sehr leise, doch er verstand sie trotzdem, blieb stehen und drehte sich um.
Die Tränen in Elíns Augen hatten zugenommen. Eine Windböe brachte ihre kurzen Haare in Unordnung und schickte ein Rinnsal an ihrer Wange hinunter. Ungewohnte Kälte erfasste seinen Körper.
„Ich hatte einen Traum“, gestand sie und sah ihn voller Mitleid an.
Er konnte so ziemlich alles hinnehmen, konnte vieles ignorieren. Im Prinzip kümmerte es Ju nicht, was andere von ihm dachten. Aber Mitleid ging zu weit.
Unter dem Druck seines Kiefers hörte er die Zähne knirschen.
Sie flüsterte nur noch. „Nachdem ich dich geheilt hatte, wie du sagst, habe ich von deinem … Sohn geträumt.“
Der Akkadier kniff die Augen zusammen, die Ader an seinem Hals pulsierte spürbar, seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt.
Naham liebte dieses Geschöpf, das ihr gegenüberstand, liebte Elín. Er selbst tat es. Doch er war nicht bereit, Li Zhu mit ihr zu teilen. Nicht den einen Sohn! Sie sollte weder von ihm sprechen noch von ihm wissen. Und schon gar nicht sollte sie von ihm träumen! In keinem der letzten sieben Jahrhunderte war es ihm vergönnt gewesen, Erinnerungen an seinen Sohn zu sehen, zu erleben. Keine Bilder, keine Stimme. Er hatte die Mauern um seinen Verstand derart stark errichtet, dass sie ihn davor bewahrt hatten. Doch das bedeutete nicht, dass der Vater in ihm sich nicht danach sehnte.
„Hör auf!“ Seine Stimme kam laut und drohend.
Elín zuckte zurück. „Es tut mir so leid.“ Sie schüttelte langsam den Kopf und sah ihn mit vor Angst geweiteten Augen an. „Ich konnte es nicht beeinflussen. Die Bilder kamen einfach.“ Sie redete wie im Wahn, schien mit der Erinnerung
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