Liebe im Zeichen des Nordlichts
reinzuwaschen. »Darauf wäre ich gar nicht gekommen. Ich dachte, dass mich ein fremder Mann verfolgt.«
Während sie sich ausführlich entschuldigte, nickte er nur höflich und lächelte sie mit den Augen an. Die Situation schien ihn zu amüsieren.
Er war attraktiver, als sie auf den ersten Blick gedacht hatte. Der Bart war ein wenig irreführend. Grau meliertes Haar, die Barthaare ein wenig dunkler als die auf dem Kopf. Freundliche Augen. Seltsam, dass der Bart die Augen betonte. Vor zehn Jahren war er sicher sehr attraktiv gewesen. Nun schien er sich in eine Karikatur seiner selbst zu verwandeln, denn sein Gesicht war schlaff geworden.
Sie musste sich ständig daran erinnern, dass er ihr Cousin war, denn für sie fühlte es sich gar nicht so an, als seien sie Verwandte, ja, nicht einmal Angehörige derselben Spezies.
Er kam aus New Jersey. Offenbar überraschte es ihn, dass sie das nicht wusste.
»Springlake, New Jersey«, verkündete er stolz. »Die irischste Stadt in Amerika.«
Sie verzog das Gesicht.
»Glaubst du mir nicht?«
Doch das Problem war nicht, dass Addie ihm nicht glaubte, sondern etwas anderes, das er niemals verstehen würde. Sie wollte ihm nicht glauben.
Für Addie waren Amerikaner irischer Abstammung Menschen, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Amerikaner irischer Abstammung waren übergewichtige Leute in karierten Hosen und mit Baseballkappen auf dem Kopf, die aus Touristenbussen auf die Nassau Street strömten und in die Wollspinnerei Blarney trotteten, um die landestypischen Aran-Pullover zu kaufen. Sie waren Zeitgenossen mit roten Gesichtern und in Turnschuhen, die sich in der National Library herumdrückten, um ihren Familienstammbaum zu recherchieren. Sie besuchten Wohltätigkeitsdinners in den Ballsälen von Hotels in Boston oder New York, wo sie Unsinn über Nordirland verbreiteten. Sie redeten zu laut und sprachen alle Ortsnamen falsch aus. Beim bloßen Gedanken an einen Amerikaner irischer Abstammung auf der Suche nach seinen Wurzeln drehte es ihr den Magen um.
Natürlich ahnte Bruno nichts von all den unschönen Assoziationen, die er auslöste. Er wusste nichts von der Lawine aus Vorurteilen und engstirnigen Feindseligkeiten, die er lostrat. Er war überzeugt, keinen Grund zu haben, sich zu schämen.
»Meine Schwestern waren alle Preisträgerinnen im irischen Volkstanz«, verkündete er gut gelaunt. »Meine Schwester Megan unterrichtet noch an der Lynn Academy of Irish Dance in Audubon, New Jersey.«
Wieder zuckte Addie peinlich berührt zusammen. Wo bin ich da hineingeraten?, fragte sie sich.
»Was hast du denn heute noch vor?«
»Arbeiten wahrscheinlich.« Gott, was war sie für eine miserable Lügnerin.
»Ist doch ein Jammer, in der Bude rumzusitzen, wenn draußen die Sonne scheint. Kannst du heute nicht freinehmen?«
Amerikaner und ihre Überzeugung, dass ihnen grenzenlose Möglichkeiten offenstanden. Vor lauter Überraschung fiel Addie nicht schnell genug eine Ausrede ein. Sie wollte es auch gar nicht.
»Weißt du«, erwiderte sie, »ich bin Architektin. Ich könnte wahrscheinlich das ganze Jahr freinehmen.«
Er hielt ihren Vorschlag, schwimmen zu gehen, für einen Scherz.
»Ja, ein prima Tag dafür«, hatte er gewitzelt.
Sie ließ ihn im Auto warten, während sie nach oben lief, um nach ihrem Dad zu sehen. Vorher hatte sie den Motor angelassen, damit er es warm hatte. Rücksichtsvoll von ihr.
Er beugte sich vor und schaltete wieder das Radio ein. Es wurde über die Wahl gesprochen. Ein Typ vom Politsender National Public Radio berichtete am Telefon über die Fernsehdebatte Mittwochnacht. Wer war der Gewinner, wer der Verlierer? Laut Umfragen von CNN und CBS war Obama eindeutig der Sieger. McCain hatte verloren. Er hatte sich eine Schlappe geleistet und war unterlegen. Allerdings hieß das nicht zwingenderweise, dass er auch die Wahl verlieren würde, fügte die Moderatorin hinzu. Nein, Ma’am, meldete sich der Reporter wieder zu Wort. Es heißt nur, dass er die Debatte verloren hat. Der Wahlausgang ist noch offen.
Bruno schaltete das Radio ab. Dann saß er in der schwirrenden Stille und ließ sich heiße Luft ins Gesicht pusten. Er atmete sie durch die Nase ein und dann langsam wieder aus. Es war schwer, sich nicht darüber aufzuregen – selbst aus dieser Entfernung war es nicht leicht, die Ruhe zu bewahren.
Warum war das Wahlergebnis für Bruno so wichtig? Manchmal verstand er es selbst nicht. Es hatte sich einfach so entwickelt – wie auch
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