Liebe in groben Zügen
und als alle gegangen waren, eine feierliche Stille in der Wohnung, sie beide zu müde, um abzuräumen, sie blieben einfach am Esstisch sitzen, die Kissen auf den anderen Stühlen noch eingedrückt, vor den Fenstern zur Straße leichter Schneefall, kein Ausklingen, ein Beginn. Unser Grundstück, sagte Renz plötzlich, der Wert hat sich verdreifacht, ist dir das klar?
Ja, möglich, und? Sie stand nun doch auf, von einem Moment zum anderen todmüde; sie ging zum Bad, und er nannte noch eine Zahl, schwindelerregend, wenn man sich dieses Geld auf einem Tisch vorstellte, auch noch, wenn es nur die Hälfte wäre. Gute Nacht, ihr letztes Wort vor dem Schließen der Tür, der Schlüssel schon seit Jahren schwer zu drehen. Und im Bad leise Musik, ein Radio, das anging, wenn man Licht machte, noch von Katrin so eingerichtet und nie verändert. Sie wusch sich das Gesicht, immer wieder, bis alles Angestrengte offen lag, als hätte sie eine Maske abgenommen; dann Zähneputzen und die Nachtcreme und noch einmal der klemmende Schlüssel, der Schalterdruck für Licht und Radio, die Stille und ihr Bett – Anfang eines langen Sonntags, einer von Hunderten mit Renz: auch schwindelerregend, der Gedanke, dass es so weiterginge, ein Rhythmus bis zum Gehtnichtmehr. Sie wollte nie alt werden, letztlich unsichtbar, kaum mehr als ein Schemen.
Als sie die Tipps noch machte, war der Februar ihre Zeit, sie reiste viel und sah sich Leute an, Berlin, Hamburg, Leipzig, Köln, fast jeden zweiten Tag gab es Aufnahmen, ihr Visagist: der beste Beschützer in diesen Wochen, überhaupt einer der besten, den sie je hatte. Und wann immer Helge im Sender war, sah er bei ihr vorbei und erzählte, wie es jetzt lief mit den Tipps, die einzelnen Beiträge kaum noch über zwei Minuten, die Yilmaz keuche förmlich durch die Sendung, seine Tätigkeit oft nur noch das Abtupfen von zu viel glänzender Stirn. Helge brachte jedes Mal etwas zu trinken mit, Prosecco in einer Kühlkanne oder zwei Averna in Espressoplastikbechern, und er sah sich ihre Kandidaten für das neue Talkformat an, die sie inzwischen steckbriefartig an der Wand hatte, ein Dutzend schon, was aus dem Wartezimmerbüro auch eine Kommissariatskulisse machte, nicht sehr viel besser, aber hilfreich, wenn Besuch kam, einmal sogar Wilfinger: der für seine Pilotsendung ganz auf den entlassenen Sexualtäter setzte, während Helge die Kandidaten eher danach durchging, wer ihm gefallen könnte. Irgendwie war er stets im Zustand des Liebeskummers, eines nahenden oder sich legenden, er war sozusagen nie auf der Höhe der Liebe, und sie war in diesen Helgestunden, die ihr den Februar verkürzten, von Mal zu Mal mehr versucht, ihm von Bühl zu erzählen und am Ende auf die Krankheit anzustoßen, die auch ihn beutelte: ohne Liebe einzugehen und mit ihr verrückt zu werden. Aber sie sagte kein Wort, sie weinte nur einmal in Helges Gegenwart, das war schon Ende Februar, als Renz zum zweiten Mal in dem Monat in München war. Angeblich saßen er und seine Krebsproducerin am Exposé zu einer Missbrauchssache, und Renz erzählte auch von ersten Kontakten zu Bühls früherem Freund, und dass er von Marlies hatte hören müssen, sie sei mit ihm, Kilian-Siedenburg, verheiratet gewesen, für Renz wohl eher eine beruhigende Neuigkeit als eine Komplikation: da wäre noch jemand, der sich kümmern könnte, wenn es bei Marlies hart auf hart kommt. Renz und sein neuer Experte hatten sogar schon eine Verabredung, Anfang März in Berlin, Siedenburg war dort zum Runden Tisch in Sachen Missbrauch geladen, und Renz hatte ohnehin in Berlin zu tun, ein Treffen, das sie am liebsten torpediert hätte, wie jeden Faden von Renz zu Bühl, auch wenn der Zeitpunkt für sie ideal war, die Faschingstage, für Runde Tische offenbar kein Hindernis. Renz und Bühls früherer Freund in Berlin, sie und Bühl in Unterried – es war so perfekt und zugleich so ungut, dass sie plötzlich weinen musste, als Helge in ihrem Büro saß.
Er war diesmal nur auf einen Sprung gekommen und hatte gar nicht erst den langen Mantel ausgezogen und auch nicht eine Russenmütze – beides, Mantel und Mütze, gaben ihm etwas von einem sanften Anarchisten –, und er hatte, weil er zu einem Dreh unterwegs war, seinen Metallkoffer mit all den Stiften und feinen Pinseln, den zahllosen Tuben, Näpfchen und winzigen Schachteln mit Silberstaub und anderen Pigmenten dabei, mehr oder weniger seine bewegliche Habe, eine Art Zauberkiste, die wie ein Teil von Helge war und
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