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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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und vor den Türen sitzen alte Frauen mit Zigarren. Der Mann ist ganz allein, er sieht mich erst im achten Stock wieder. Dann sage ich meinen Namen, das hilft ihm. Besonders den Deutschen hilft mein Name, jeder Deutsche hebt dann einen Daumen. Und den Daumen – el pulgar, der Daumen –, den nehme ich und führe den Mann in eine Wohnung, dort sind wir allein. Meine Kleine, sie heißt Olmayra, ist bei einer der alten Frauen. Die Wohnung ist leer und riecht nach Beton, und es gibt kein Licht, es gibt nur mein Feuerzeug. Ich mache damit eine Kerze an, und der Mann sieht auf dem Boden eine Matratze. Kein Bett, fragt er, und ich sage, no sorry, kein Bett. Und dann passiert es auf der Matratze, mit Kondom. Heißt es der oder das Kondom? Mercedes stand von der Bank auf, sie schob sich ihr Zigarettenpäckchen in den Ausschnitt – ein blaues Päckchen, fast von dem Blau wie Gerd Heidings kleine Gauloises-Schachtel, die er vorher immer auf dem Achterkiel abgelegt hatte, schön ausbalanciert, und am Ende fiel sie jedes Mal herunter. Das Kondom, sagte Bühl, als Mercedes in einen Hüftbeutel griff und eine spielzeughafte Flasche mit Milch hervorzog. Sie gab ihrem Kind zu trinken, sie wiegte es im Arm, dass er gern mit ihm getauscht hätte. Und wo endet das Ganze? Endet es auf der Matratze oder hier unter den Bäumen, wo es angefangen hat? Ihm ging es um den Bogen, wo setzt die Spannung ein, wo klingt sie aus, und Mercedes sprach von einem Kuss, wenn der Mann nett zu ihr war – die Belohnung, sagte sie, ein echter Kuss. Willst du jetzt mit mir gehen? Sie packte die Milchflasche wieder ein, und er gab ihr die fünfzig Euro, was sie kaum fassen konnte; dann trat er die Zigarette aus und ging mit leisem Gutenacht Richtung Hotel.
    Hat Franz je geküsst? Auch eine Frage der Definition: Was ist ein Kuss, auf jeden Fall etwas Unbezahlbares. Der echte Kuss für Geld also eine Contradictio in adiecto, ein Widerspruch in nur fünf Worten, kaum vorstellbar und doch vorstellbar. Was da zuerst mit den Lippen passiert, darüber lässt sich vielleicht noch hinwegfühlen, reines Geschnäbel, aber wenn die Zungen dazustoßen und freien Lauf haben für ein Ineinander und Miteinander, muss es im Mund zu einer Art Intrige gegen die Tatsache des rein Geschäftlichen kommen: zu einem Kuss, der in sich immer echter, immer wahrer wird und doch unhaltbar bleibt, an dem man letztlich nur verzweifeln kann. Bühl betrat die Kathedralenhalle des Plaza und lief zu dem Sofa in der entlegenen Ecke, Vilas und seiner Ecke mit ihrem Sofa. Er sank darin ein, wie sie beide darin eingesunken waren, und holte aus der Brusttasche Papier und Stift und das Ding, mit dem Vila, wenn er nur leicht ein paar Zahlen berührte, überall erreichbar wäre, diese großartig lächerlichste aller Erfindungen zu seinen Lebzeiten, ein Ding statt einer Philosophie, die sich der Liebe annimmt. Und wieder die Frage: Hat Franz je geküsst? Wie man ein Kind machte, das wusste er, auch wenn er keins gemacht hat, weil Hausmägde wussten, was zu tun war, um sich nicht ins Unglück zu stürzen. Aber Lippen und Zungen vermischen: wusste er, was das hieß, den Wunsch nach immer mehr zu riskieren? Einen Aussätzigen hat er geküsst, trotz aller Abscheu, und sich die Nächstenliebe eingehandelt. Warum dann nicht auch den Kuss ohne Abscheu probieren – eine Frage der Gelegenheit, der Stimmung, wie es auch eine Stimmung gibt zum Schreiben, mit dem man sich das Alleinsein einhandelt.
    Ein warmer, fast noch heißer Tag im Frühherbst, Franz am Ufer des Benacus in dem Örtchen Torri, die Augen brennen ihm, mehr noch als Magen und Füße. Warum ist die mit der Wäsche geflohen? Ein paar Sachen aus dem Bündel sind heruntergefallen, liegen im Staub, weiße Stücke, die ihn blenden, die hat sie einfach liegenlassen in ihrem Erschrecken vor seinem Namen. Sie sind scheu, die jungen Mägde, die in den Haushalten helfen oder die Tiere versorgen, die Gänse, das Vieh, die weichen Kaninchen, als seien es Geschwister. Er kennt sie aus der Unterstadt, diese Scheuen und Schönen, eine kannte er sogar näher, für eine Nacht zwischen Ziegen und Eseln. Franz kühlt sich die kleinen, fast fraulichen Füße, dann ritzt er mit einem scharfen Kiesel ein griechisches Tau in den Sand, die Kreuzform statt seines Namens, zum Zeichen, daß er hier war. Mühsam kommt er auf die Beine, die Sonne steht über dem südlichen See, ein schleiriger stiller Mittag. Alles ruht, die Fischer, ihre Frauen, die Kinder und die Katzen

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