LIEBES LEBEN
Wann werde ich das endlich kapieren? Ich habe in der Mittagspause zwei Stunden vollkommen umsonst im Einkaufszentrum verbracht. Meine Verabredung ist in vier Stunden, und was ich jetzt anhabe - einen weißen Strickpulli und einen roten Rock von Ann Taylor –, erscheint mir inzwischen sehr hübsch. Leider sehe ich nicht betörend aus, sondern wohl eher das, was man als annehmbar bezeichnen würde. Aber Jane Austens Elizabeth Bennet sah auch nur annehmbar aus, und sie hat sich Mr. Darcy geschnappt. Vielleicht ist es besser, wenn ich Seth mit meinem Aussehen nicht überwältige. Vielleicht ist es besser, ganz normal auszusehen, damit er meine innere Schönheit entdecken kann - die wie ein grandioses Feuerwerk erstrahlen wird.
Ich habe einige Hosen anprobiert, aber diese Hüfthosen sind für - ich weiß auch nicht, für wen - gemacht. Jedenfalls nicht für Frauen mit Hüften. Ich habe ein Bild von Jennifer Lopez in weißen Hüfthosen gesehen, und sie sah schrecklich aus. Und wenn ein Modestil an Jennifer Lopez schon nicht gut aussieht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er an irgendjemand anders gut aussieht, ziemlich gering. Warum gibt es also überall nur noch diese Hosen zu kaufen? Wenn die Durchschnittsfrau sagen wir mal Größe vierzig trägt und Jennifer Lopez vielleicht Größe sechsunddreißig, warum gibt es diese bauchnabelfreien Hosen dann bis Größe sechsundvierzig? Das ist seelische Grausamkeit an den Frauen Amerikas. Und wir folgen dem Trend wie die Lemminge.
Statt nach Hause zu gehen und mich für meine Verabredung fertig zu machen, mache ich noch ein paar Sachen im Büro fertig. Wenn ich heute Abend früher gehe, wird mich das bitter zu stehen kommen. Aber bevor ich es merke, ist es schon Zeit für Fresh Choice, und ich stürme zur Tür hinaus. Ich pudere mein Gesicht noch ein bisschen und trage einen knallroten Lippenstift auf. Mein Gesicht sagt, dass ich mir Mühe gegeben habe, gut auszusehen, aber nur ein wenig. Es sagt, ich bin deine gute Freundin, aber auch offen für mehr. Lass uns reden.
Als ich am Restaurant ankomme, wartet Seth im Foyer auf mich. Bei diesen kristallblauen Augen bleibt mir jedes Mal das Herz stehen. Sein Lächeln reicht bis zu seinen Augen hinauf. Seth und ich kennen uns schon seit Jahren. Wir haben uns gemeinsam durch alle Single-Gruppen gearbeitet, und obwohl da immer so ein gewisses Etwas zwischen uns war, hat keiner von uns beiden je darauf reagiert. Aber das wird sich ja jetzt wohl ändern. Noch nie hat er mich so angesehen. Da bin ich mir ganz sicher. Ziemlich sicher. Fast sicher.
»Ha-hallo«, stottere ich. Wie elegant! Ich nehme das Kinn hoch und versuche meine Fassung wiederzufinden.
»Hallo. Schön, dass du kommen konntest.« Er holt mir ein Tablett und lässt mich zuerst an die Salattheke gehen. Na schön, das hat etwas von Kavalier sein.
Wir gehen schweigend die ganze Theke entlang, und als wir an die Kasse kommen, packt mich die Panik. Soll ich meinen Geldbeutel herausnehmen? Nicht dass die neun Dollar ihn umbringen werden, aber ist es geschmacklos, das zu erwarten? Einen Augenblick lang kaue ich auf meiner Lippe und beschließe dann, dass er mich schließlich eingeladen hat; dann kann er auch zahlen. Ich lächle ihn an, als er den Geldbeutel zückt - und mit Rabattmarken bezahlt.
»Danke für die Einladung.«
»Gern geschehen.« Wir setzen uns an einen Tisch, und er beachtet sein Tablett gar nicht, sondern konzentriert sich ganz auf meine Nase. Noch nie hat er mich so gespannt angesehen! Und diese Augen! Ich sehe ihn schon im Smoking bei unserer Hochzeit oder die gleichen Augen im Gesicht unseres Sohnes, der die gleiche Haarfarbe hat wie ich und definitiv mehr Haare als auf Seths Kopf ...
»Du fragst dich sicher, worüber ich mit dir sprechen wollte.« Gleich fange ich an zu hyperventilieren. Ich wusste nicht, dass es hier eine Tagesordnung gibt. Hätte ich merken müssen, dass es eine Tagesordnung gibt? Brea hätte es gemerkt, wenn es ihr besser ginge. Ich hätte unser Telefongespräch besser analysieren sollen. Merke: Hör den Anrufbeantworter mindestens sechs Mal ab.
»Nein, nicht wirklich. Ich habe einfach gedacht, dass du mich zum Essen einlädst. Wir sind schon sehr lange befreundet, nicht wahr?« Ich hoffe, dass ihn das davon abbringt, mir etwas zu erzählen, das ich nicht hören will.
Er verschüttet seine Cola - manchmal ist er so hinreißend ungeschickt - und steht auf, um ein paar Servietten zu holen. Ich schiebe mir eine Olive in den Mund
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