LIEBES LEBEN
könnte. Andererseits, nein.
»Wie bist du hergekommen?«, fragt sie.
»Der Chauffeur hat mich mit dem Firmenwagen abgeholt.«
Sie macht die Augen zu und schüttelt den Kopf. »Na gut, dann nimm mein Auto. Der Firmenwagen wird nicht rechtzeitig wieder hier sein.« Ängstlich gibt sie mir die Schlüssel. Sie fährt einen Honda Accord! Schließlich gibt sie mir nicht die Schlüssel eines Porsches! Man sollte meinen, dass sie mehr Bedenken haben sollte, mir ihren Sohn zu überlassen als ihr Auto. Mit Autos kann ich umgehen. Aber Kinder? Das ist eine andere Sache.
»Was ist mit all diesen Unterlagen?«, frage ich mit einem Seitenblick auf den Stapel, den sie mir auf den Tisch gelegt hat.
»Die sind nicht so wichtig. Dazu kommst du schon noch. Du hattest doch ohnehin damit gerechnet, die ganze Woche weg zu sein, oder?«
Was ist mit meiner gelassenen Chefin passiert? Hat sie sich das Silicon-Valley-Virus gefangen und muss jetzt sieben Tage die Woche rund um die Uhr arbeiten? Habe ich den Magister gemacht, um Kinderchauffeur zu werden? Kann mir das einer erklären? Ich richte mich auf.
»Purvi, ich glaube nicht, dass es zu meinen Aufgaben gehört ...«
Sie starrt mich an, und ich halte den Mund. Ich fange an zu verstehen, warum ihr Mann am anderen Ende der Welt lebt.
»Egal«, sage ich feige. »Wo muss ich hin?«
Sie gibt mir einen Stadtplan, und ich zerknülle das Blatt in meiner Hosentasche, als sei ich plötzlich aufsässig. Ja, genau! Ich gehe zu ihrem lumpigen kleinen Accord, der auf dem Parkplatz steht, und lasse ihn ohne Probleme an. Warum musste ich ausgerechnet heute mein Auto stehen lassen?
Das Haus ihrer Schwiegermutter ist im Villenviertel von Los Altos. Ich weiß, dass sich weder Purvi mit ihrem Gehalt noch ihre Familie so ein Haus leisten können, und frage mich, woher sie das Geld dazu haben. Ob sie es legal erworben haben?
Das Haus hat eine schöne Klinkerfassade. Ich sage Fassade, weil echte Backsteinhäuser hier, entlang des San Andreas Grabens, nicht erlaubt sind. Beim Anblick des Hauses wird mir bewusst, dass ich hier bin, um ein echtes, lebendes Kind abzuholen. Ich schaudere.
Ich klopfe vorsichtig an die Tür, und keine zehn Sekunden später steht der Junge vor mir mit den Händen seiner Großmutter auf der Schulter. Er hat dunkle Haare, dunkle Augen und schaut mich genauso finster an wie seine Mutter manchmal, als hätte ich sie ihm gestohlen.
»Bist du startklar?« Ich klatsche in die Hände, als sei er ein Dreijähriger, der sich mit dem Nikolaus fotografieren lassen soll.
»Wo ist meine Mama?«, fragt er ausdruckslos.
»Sie ist im Büro, und ich soll dir ausrichten, dass sie dich sehr vermisst.«
»Das hat meine Mama nicht gesagt.« Er verschränkt seine kleinen, dürren Ärmchen. »Sie arbeitet an neuen Patenten, die sehr bedeutend sind für den Erfolg von Selectech. Es ist unerlässlich, dass sie ihrer Arbeit nachgehen kann. Zu einer Zeit, in der ihre Anwesenheit in der Firma so dringend benötigt wird, muss die Familie natürlich zurückstecken.«
»Wie alt bist du?«, frage ich ihn.
»Neun«, antwortet er.
Aha, deshalb sind die Männer hier so abgedreht und ich bleibe ewig Single. Den Männern wird schon sehr früh beigebracht, dass es als positiver Charakterzug gilt, wie ein Wörterbuch zu reden und keinerlei Höflichkeit zu zeigen. Erinnern Sie mich daran, dass ich das in mein Männerbuch schreiben muss, gleich nach dem Kapitel über die Bierwerbung, die verboten gehört.
»Hast du deine Sachen?«, frage ich ohne jede Gefühlsregung.
»Ja.«
»Dann steig ins Auto.« Ich lächle die Schwiegermutter an, die, so schließe ich aus ihren Verbeugungen, kein Wort Englisch spricht.
Ich hole den Stadtplan heraus und fahre zur Schule, immer bemüht, dabei keine Unterhaltung mit dem Wunderknaben anzufangen. Ich möchte ihm von Jesus erzählen, aber wegen dem Ahnentempel, von dem ich weiß, dass Purvi ihn besitzt, und dem Vokabular dieses Jungen traue ich mich nicht. Er würde wahrscheinlich anfangen, über die Unterschiede zwischen den Religionen zu diskutieren, und dazu ist es im Moment noch zu früh. Außerdem würde Purvi mich wahrscheinlich einen Kopf kürzer machen, wenn sie es erfährt. Ihre stillschweigenden Anweisungen sind ziemlich eindeutig: Kind abholen, nicht sprechen, unverzüglich ins Büro zurückkommen.
Wir kommen zu einer Privatschule für Hochbegabte, und ohne ein Wort zu sagen, springt der Junge aus dem Auto und schlägt die Tür hinter sich zu. Ein Lehrer
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