Liebesdienste / Roman
das Foto von ihm und den Japanern neben der Ein-Uhr-Kanone, als Nächstes das Foto des National War Memorial. Und anschließend kam nur noch ein Foto. Es war schwarz, vollkommen schwarz. Verwirrt ging Jackson die Fotos noch einmal rasch durch. Mit demselben Ergebnis – nichts. Keine Spur von dem toten Mädchen. Nur das schwarze Foto. Das schwarze Viereck, in das Julia jeden Abend schaute, fiel ihm ein, der wütende arktische Sturm. Er fragte sich, ob das Foto des toten Mädchens gelöscht worden war, vielleicht aus Versehen. Er wusste, dass man nie etwas ganz löschen konnte, nicht das Löschen zerstörte eine Datei, sondern das Überschreiben mit neuen Daten. Es gab Programme, die verlorene Bilder wiederherstellten. Das konnte jeder Fotoladen. Oder die Techniker der Polizei.
»Wollten Sie etwas?«, fragte Louise. »Oder rufen Sie nur an, um mich zu ärgern?«
»Sie sind kein Morgenmensch, oder?«, fragte er. Plötzlich war ihm klar, was passiert war. In seiner Hast, das Foto zu machen – Leiche, steigende Flut und so weiter –, hatte er den Verschluss der Linse nicht geöffnet.
Oh,
Scheiße
. Er schlug mit dem Kopf auf den Tisch. Die anderen Gäste des Café Politik sahen ihn beunruhigt an.
»Hallo? Ich rufe Jackson.«
»Nichts, es war nichts. Sie haben recht, ich habe nur angerufen, um Sie zu ärgern.« Er erinnerte sich an etwas. Etwas, was das verrückte russische Mädchen gestern Abend zu ihm gesagt hatte, und er fragte Louise, was sie über reelle Häuser für reelle Menschen wusste.
»Eichhörnchen fressen mein Haus auf«, sagte Louise aus heiterem Himmel.
»Okay«, sagte Jackson, weil ihm dazu keine andere Antwort einfiel. Er fragte sich, ob es besonders große Eichhörnchen waren.
38
L ouise verspürte ein merkwürdiges Entsetzen, erinnerte sich vage an einen Dokumentar- oder Spielfilm – Fakt oder Fiktion, sie wusste es nicht –, ein Mann, der vollkommen benommen erwacht und feststellen muss, dass seine ganze Familie abgeschlachtet worden ist, während er schlief, der von Zimmer zu Zimmer taumelt und ihre Leichen findet.
Plötzlich erwachte sie, zu plötzlich, mit rasendem Herzen und schweißgebadet, und sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu überzeugen, dass es ein Traum gewesen war. Und dann hörte sie das Scharren. In den Wänden? Oder über ihrem Kopf? Über ihrem Kopf. Klauen oder Nägel auf Holz, Kratzen, Laufen. Es hörte auf. Fing wieder an, hörte erneut auf. Was verursachte diese Geräusche? Olympische Spiele der Nagetiere auf dem Dachboden. Vor ein paar Jahren hätte sie Jellybean hinaufgeschickt, den felinen Terminator. Er schlief auf ihrem Bett, bewegte sich neben ihrem Fuß. Sie hätte gern seine professionelle Meinung zu dem Scharren und Kratzen eingeholt, aber sie wollte ihn nicht stören. Er schlief jetzt fast die ganze Nacht und den ganzen Tag. Sie dachte immer, dass es für ihn letzte Dinge waren, sein letzter Tag, sein letztes Frühstück, sein letztes Bad, sein letzter Spaziergang im Freien. Sie kaufte ihm kein Katzenfutter mehr, sondern ging in die Lebensmittelabteilung von Marks and Spencer’s und erstand Bio-Räucherlachs, Scheiben gekochter Hühnerbrust und frische Eiercreme, von allem brachte er nicht mehr als ein paar halbherzige Bissen hinunter, vermutlich mehr ihr zuliebe als aus Hunger. Das letzte Abendmahl. Archie beschwerte sich, dass er nicht so gute Sachen bekam wie die Katze, und er hatte recht.
Sie hievte sich aus dem Bett, ging leise den Flur entlang und öffnete die Tür zu Archies Zimmer – sie musste sich vergewissern, dass der Albtraum ein Albtraum gewesen war. Beide Jungen schliefen, Archie in seinem Bett, Hamish in einem Schlafsack auf dem Boden. Das Zimmer stank nach Jungen. Louise dachte, dass ein Mädchenzimmer nach Nagellack, Buntstiften und billigen Süßigkeiten riechen würde. Archies Zimmer war erfüllt von konzentriertem Testosteron und Fußgeruch. Im Dämmerlicht erkannte sie gerade noch, dass sich Archies Brust hob und senkte. Sie machte sich nicht die Mühe, Hamish nach Lebenszeichen abzusuchen, was sie betraf, konnten Jungen wie er ruhig abgeschlachtet werden.
Sie holte ihre schwere Polizei-Maglite unter dem Kopfkissen hervor und zog die Leiter aus der Falltür im Flur. Sie stieg hinauf, öffnete vorsichtig die Luke und stellte sich vor, dass ihr etwas auf den Kopf springen, sich in ihrem Haar verfangen, an ihren Ohren und Lippen knabbern würde.
Das winzige Fenster ließ mehr Morgenlicht ein, als sie gedacht hatte, und
Weitere Kostenlose Bücher