Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
werfen!
»Glauben Sie mir, es ist nicht möglich, eine sinnlose Handlung mit Vernunft nachzuvollziehen.«
Sie antwortete nicht. Fast eine Minute lang belauerten sie sich mit Blicken, wie zwei Duellanten. Schließlich fragte Mathilde: »Werden Sie mir davon erzählen?«
»Ja. Irgendwann.«
Die Spannung wich aus seiner Haltung, ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Was für ein schöner, einzigartiger Mann, durchfuhr es Mathilde, und ihr wurde klar, daß sie ihm gerade zugesichert hatte, ihn wieder zu besuchen. War sie so leicht zu manipulieren? Und doch löste die Aussicht, ihn wiedersehen zu dürfen, ein prickelndes Glücksgefühl in ihr aus.
Er sah ihr in die Augen und sagte leise: »Sie sind eine Einzelgängerin, Mathilde, genau wie ich. Die meisten Menschen umgeben sich freiwillig mit Leuten, die ihnen auf die Nerven gehen, nur um nicht allein zu sein. Sie muten anderen ihre Gesellschaft zu, obwohl sie sich nicht einmal selbst ertragen können.«
Mathilde mußte unweigerlich an Franziska denken, während Lukas Feller fortfuhr: » Willst du die ganze Erbärmlichkeit des Menschen kennenlernen, schau nicht auf den einzelnen, sondern auf das Paar. Sagt Henri de Montherlant. Aber Sie sind anders. Sie liefern sich nicht um der Gesellschaft willen der Dummheit anderer aus. Sie sind stark und autark. Sie sind wie ich.«
Die Menschen um sie herum hörten auf zu existieren. Seine Worte fielen wie warmer Regen auf einen trockenen Boden, der jeden Tropfen gierig aufsaugte. So etwas hatte ihr noch niemand gesagt. Er schien ihr Wesen besser zu kennen als sie selbst. Was andere eigenbrötlerisch oder altjüngferlich nannten, das war in Wahrheit ihre Stärke. Sie lächelte.
»Darf ich Ihre Hand berühren?« fragte er.
Mathilde legte zögernd die Hand auf den Tisch, als handele es sich um einen von ihr abgetrennten Gegenstand. Er ergriff sie, zart und vorsichtig, wie man einen verletzten Vogel aufhebt.
Er neigte den Kopf, seine Lippen berührten sanft ihre Fingerspitzen und wanderten langsam höher. Sein Atem hinterließ eine glühende Spur. Mathilde durchlief sämtliche Klimazonen. Seine Zunge kreiste um den Knöchel ihres Mittelfingers. Dann umschlossen seine Zähne ihre Haut, ein winziger, elektrisierender Schmerz. Sie erschrak, als sie sich bei dem Wunsch ertappte, er möge fester zubeißen. Gleichzeitig wußte sie, daß sie zu viel zugelassen hatte, daß sie schon vor Ewigkeiten hätte intervenieren müssen.
Bevor die Vernunft sie ganz eingeholt hatte und sie beschließen konnte, ihm die Hand zu entziehen, legte er sie wieder sanft auf den Tisch zurück. Mathilde fühlte seine Zähne noch immer in ihrer Haut wie einen Phantomschmerz. Noch hielt er ihre Fingerspitzen zwischen den seinen, dann ließ er ihre Hand vollständig los. Mathilde war, als würde man ihr etwas entreißen, das sie sofort vermissen würde.
»Gehen Sie jetzt«, sagte er leise. Mathilde stand so geräuschlos wie möglich auf. An der Ausgangstür blieb sie noch einmal stehen und blickte sich um. Er sah sie an, und in diesem Augenblick setzte sich eine Erkenntnis in ihrem Hirn fest, so unumstößlich wie ein Richterspruch: Das ist der Mann, auf den ich mein Leben lang gewartet habe. Dann schlug die Tür hinter ihr zu.
Mathilde war in aufgekratzter Stimmung und gleichzeitig erleichtert, wieder draußen zu sein. Die Sonne auf der Haut, der Himmel, das Flugzeug vor dem Blau, die Gewißheit, hinfahren, hinfliegen zu können, wohin sie wollte … Die selbstverständlichsten Dinge hatten plötzlich einen zauberischen Wert bekommen. Dabei hatte sie nicht einmal eine halbe Stunde auf der anderen Seite der Mauern verbracht. Sie setzte sich in ihren Wagen und betrachtete sich im Rückspiegel. Ihre Wangen waren tiefrot. Lieber Himmel, habe ich die ganze Zeit ausgesehen wie ein pubertierendes Schulmädchen?
Es war erst halb fünf. Ich könnte Franziska besuchen, dachte Mathilde. Könnte dem Anruf zuvorkommen, mit dem sich diese Ignorantin des Briefgeheimnisses erkundigen würde, weshalb Mathildes obligater Besuch am frühen Mittwochnachmittag ausgefallen war. Sie startete den Wagen und fuhr durch die Nordstadt in Richtung Süden. Hin und wieder sah sie in den Rückspiegel, um ihre Gesichtsfarbe zu überprüfen. Den schwarzen Wagen, der ihr in einigem Abstand folgte, bemerkte sie nicht.
Vor dem Nachbargrundstück stand ein Container mit Bauschutt. Darin erkannte Mathilde die gleichen schlüpferrosafarbenen Badezimmerfliesen, die sie vor drei Jahren aus
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