Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
rasch alle seine Gewohnheiten, sein Lieblingsbistro,
seine bevorzugte Kneipe, das Kino, in das er manchmal ging oder die Strecke, die er jeden Morgen bei jedem Wetter entlang joggte.
Er wusste nichts davon, ahnte nicht einmal ihre Nähe und sie genoss es, ihn zu beobachten, ihn zu sehen und immer mehr über sein Leben außerhalb der Firma zu erfahren. Manchmal bekam er Besuch, meistens von seinem Sohn Julian, der dann über Nacht blieb, hin und wieder brachte er seine neue Freundin mit, mit der sie ihn im „Take Five“ gesehen hatte. Doch eigentlich geschah nicht viel in Roberts Privatleben, wenn man einmal davon absah, dass er sich hin und wieder mit seiner geschiedenen Frau traf, die aber nie über Nacht blieb.
Sie fing irgendwann damit an, sich Perücken zu kaufen, blond, rot, lila, dazu Kleider und Röcke, die sie in ihrem wirklichen Leben niemals freiwillig angezogen hätte, aber jetzt war es egal, wie sie aussah. Irgendwann empfand sie es sogar als komisch, sich zu verkleiden wie ein Kind, das unterwegs zu einem Faschingsfest war…
Als sie dieses makabre Spiel sechs Wochen lang aufgeführt hatte, war es Mitte November und viel zu kalt, um Robert zu Fuß auf allen Wegen zu folgen. Da fing sie an, nicht nur ihre Perücken zu wechseln, sondern auch die Autos.
Sie ließ sich irgendwann stundenlang von einem Taxi kreuz und quer durch die Stadt chauffieren, immer auf Roberts Spuren, der an einem dieser kalten, nassen Abende erst ins Theater und anschließend in eine Bar ging, die er nach etwa zwei Stunden zusammen mit einer Frau verließ.
Robert und seine Begleiterin hatten sich untergehakt, während sie ihre Schritte immer im gleichen Takt setzten, gingen ins „Einstein“ – und blieben verschwunden.
Wohin? Was, wenn Robert mit dieser anderen Frau längst durch einen zweiten Ausgang das Lokal verlassen und sie mit in seine Wohnung genommen hatte?
Während sie auf dem Rücksitz des Taxis saß und wartete, stieg plötzlich Angst in ihr hoch wie Wasser im Keller bei einer reißenden Flut. In ihren Füßen spürte sie es zuerst, dann füllte diese Angst ihre Beine, breitete sich in ihrem Bauch aus, kletterte hinauf bis zur Brust und von dort bis zu ihrer Kehle.
Sie schluckte und schluckte und konnte gleichzeitig fühlen, wie das kalte, spiegelglatte Entsetzen sie bis in die Fingerspitzen ausfüllte. Übelkeit überkam sie, sie hatte das Gefühl, dass alles um sie herum schwankte, ihre Knie waren weich, gaben nach, sodass sie vom Rücksitz zu rutschen drohte.
Der Taxifahrer sah sich nach ihr um. „Was ist?“
„Ich glaube… mir ist schlecht“, flüsterte sie.
„Aber nicht hier im Auto“, wurde der Mann energisch. Er reichte ihr eine Papiertüte, öffnete gleichzeitig die Tür des hinteren Sitzes, sodass sie aussteigen und einige Male tief durchatmen konnte. Die frische Nachtluft tat ihr gut. Sie brauchte die Papiertüte nicht, sondern ging ein bisschen auf und ab, was sie erfrischte. Sie fühlte sich bald besser, sodass der Taxifahrer, der sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, fragte:
„Soll ich Sie nach Hause fahren? Oder wollen wir immer noch hier warten?“
Sie brauchte nicht einmal darauf zu antworten, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum „Einstein“, ein junger, großer Mann in einem schicken Abendanzug verließ das Lokal und sagte im nächsten Moment restlos verblüfft:
„Kitty? Was machst du denn hier? Und wie siehst du eigentlich aus? Ist denn schon Karneval?“
Es war ein Wunder, dass er sie überhaupt erkannte mit der hellroten Perücke und der Unmenge von Schminke im Gesicht. Dazu kam der seltsame, lange Trenchcoat, den sie zu soliden Winterstiefeln trug – zwei Dinge, in denen sie nicht im Geringsten mehr an die mondäne Kitty Cornelius erinnerte, deren supermoderner modischer Look alle kannten.
Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen. „Jens! Meine Güte, auf dich war ich ja gar nicht gefasst… Gut siehst du aus.“
„Ich war im Theater. Premiere von Èmilia Galotti`. Und nach dem Theater kehre ich gern auf einen Drink hier ein. Weißt du, wen ich gesehen habe? Robert. Unseren Geschäftsführer. Mit einer sehr attraktiven Frau. Vielleicht hilft die ihm, seine Sarah zu vergessen. Oder ihn wenigstens ein bisschen zu trösten. – Wie ist es? Trinken wir noch irgendwo was? Du siehst aus, als könntest du einen kräftigen Schluck gebrauchen. Ist das dein Taxi, das da wartet? Schick es weg. Lass uns mal ins `Take Five` fahren. Oder
Weitere Kostenlose Bücher