Liebling der Götter
Da draußen herrschte nur jene Dunkelheit, bei der man außer seinem Spiegelbild im Fenster nichts sah, und das teilte er auch Vergil mit.
»Genau das ist der springende Punkt«, antwortete Vergil. »Da draußen herrscht nämlich das absolute Nichts. Wahrscheinlich handelt es sich um die größte Ansammlung des absoluten Nichts im gesamten Universum.«
»Ich verstehe«, murmelte Jason und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »In dem Fall hat mich jemand ganz schön auf den Arm genommen.«
»Wirklich?« Vergil musterte seine Fingernägel. »Und um wen könnte es sich dabei gehandelt haben?«
Jason verspürte ein leichtes Zucken unter der Kopfhaut. »Ach, so ein Typ, den ich zufällig kennengelernt habe. Er hat mir gesagt, daß ich … na ja, daß ich etwas, nach dem ich suche, in der U-Bahn-Station finde, die direkt unter dem Hamley’s liegt. Als ich ihm daraufhin gesagt habe, daß es dort meines Wissens keinen U-Bahnhof gibt, hat er mir geraten, dich darum zu bitten, mich dorthin zu bringen. Wie du weißt, habe ich das getan, und jetzt erzählst du mir, daß ich hier nicht aussteigen kann.«
»Keinen Ton davon habe ich gesagt!« widersprach Vergil heftig. »Ich habe lediglich gesagt, daß dir die Türen keine Beihilfe leisten, wenn du so unglaublich lebensmüde bist, um hier aussteigen zu wollen. Das ist alles.«
Jason lehnte sich seufzend zurück. Das war’s dann wohl, sagte er sich. Aber dennoch …
»Vergil, darf ich dich etwas fragen?«
»Nur keine falschen Hemmungen«, ermunterte ihn der Dichter.
»Wenn du eine kleine Stimme im Hinterkopf hättest, die dir andauernd rät … nein, eintrichtert, Dinge zu tun, die du nicht tun willst, weil sie gefährlich sind, und deren Sinn du sowieso nicht einsiehst, wie würdest du darauf reagieren?«
»Ich würde eine Leukotomie vornehmen lassen, also mich einer Gehirnoperation unterziehen«, antwortete Vergil, ohne zu zögern. »Es gibt nichts Schlimmeres als ein geschwätziges Gehirn, sage ich immer.«
»Ich verstehe. Nur habe ich dieses schreckliche Gefühl, daß ich hier den Zug verlassen und mich auf die Suche machen sollte – nun, nach diesem Etwas, diesem Dingsbums. Ich habe zwar nicht die geringste Lust dazu, aber irgendwie verspüre ich einen Drang danach. Verstehst du mich?«
Vergil nickte und antwortete betrübt: »Allerdings. Trotzdem würde ich mir an deiner Stelle deswegen keine Sorgen machen. Vielen Leuten geht das so.«
»Ach, wirklich?« fragte Jason leicht ermutigt.
»Ja, massenweise sogar. Kurz bevor sie getötet werden. Weißt du, eine Menge Leute werden getötet und …«
»Wird man mich töten, wenn ich den Wagen verlasse?« unterbrach ihn Jason. »Ich meine, steht das fest? Gibt es gar keine Überlebenschance?«
»So direkt würde ich das nicht sagen«, druckste Vergil herum.
»Wie sind denn meine Aussichten?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung. Du mußt wissen, daß noch nie zuvor ein Sterblicher dort war, wo du hingehen willst. Zumindest ist noch nie jemand zurückgekehrt, und deshalb gibt es für eine Wahrscheinlichkeitsrechnung keine vernünftige Grundlage.«
»Scheiß drauf!« sprach sich Jason selbst Mut zu. »Vor Kolumbus ist auch noch niemand in Amerika gewesen.«
Vergil blickte ihn mit ernster Miene an und beugte sich ein wenig vor. »Hast du dabei jemals bedacht, wie viele Menschen vor Kolumbus versucht haben, nach Amerika zu kommen, letztendlich aber allesamt gescheitert sind, weil sie über den Rand der Erde fielen?«
»Aber das ist doch längst …«
»So was kannst du nur sagen, weil du nicht weißt, wovon du redest«, unterbrach ihn Vergil. »Außerdem wäre ich ganz schön bescheuert, meine Zeit damit zu vergeuden, dir alles zu erzählen, weil du in Kürze sowieso nicht mehr existieren wirst. Wenn ich es dir erzähle, wäre es zumindest so, daß du schon bald nicht mehr existierst, weil du den Zug verlassen wirst. Wenn ich dich allerdings aus Angst vor dem, was da draußen ist, in die Hose scheißen lasse, anstatt dir die Wahrheit zu sagen, dann wirst du den Zug nicht verlassen und folglich auch nicht sterben. Nicht dumm, wie?«
»Ich weiß nicht recht. Ehrlich gesagt kann ich dir nicht mehr ganz folgen.«
»Es handelt sich hierbei um eine Bifurkation, eine Gabelung. Genauer gesagt, um eine Unmöglichkeitsgrenze. Ein Sterblicher kann unmöglich wissen, was da draußen ist, und gleichzeitig weiterleben, um es anderen zu erzählen. Du kannst dich nur für eine der beiden Alternativen entscheiden – wissen und
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