Liebst du mich wirklich, Raoul
hat Daddy geliebt!“
„Was wusste die schon von Liebe?“ Die alte Dame machte einen abfälligen Laut. „Sie war gierig und dachte nur an ihren eigenen Spaß. Und nach dem Tod von Mrs. Esthers Mann musste sie sich jemand anderen suchen, den sie ausnehmen konnte. Und für dich gilt vermutlich dasselbe.“ Sie sah ihre Nichte scharf an. „Glaub ja nicht, dass Mrs. Seymour dich weiterhin hier wohnen lässt! In ihren Augen bist du eine Beleidigung für ihre Schwester, und sie hält Mr. Raoul für schwachsinnig, weil er dich überhaupt ein zweites Mal angesehen hat, obwohl er doch die Wahrheit über deine Familie kennt.“
Und so verließ Rhianna am nächsten Tag nach sechs schlimmen Jahren Penvarnon House – trotz allem das einzige Zuhause, das ihr geblieben war.
Carrie war am Boden zerstört und konnte nicht begreifen, dass ein harmloser Kuss Auslöser dieser ganzen Katastrophe sein sollte.
„Aber das hat Raoul doch nicht wirklich ernst gemeint“, jammerte sie. „Wahrscheinlich tat ihm leid, dass du auf meiner Feier kellnern solltest, und er wollte nur wieder nett sein.“ Liebevoll sah sie ihre Freundin an. „Sieh es ein, Liebes. Du bist einfach viel zu jung für ihn. Er geht mit Frauen aus, die sich für Kunst und Kultur interessieren, reich und schön sind.“
„Schon gut“, murmelte Rhianna betrübt. „Und der Hauptgrund für meine Verbannung liegt natürlich eher in der Vergangenheit unserer Familien. Obwohl ich immer noch nicht glauben kann, dass meine warmherzige Mutter eine kranke Frau derart ausnutzen würde.“
„Ich weiß auch gar nicht, was mit meiner Tante los war“, sagte Carrie. „Laut meiner Mutter hatte sie mit Raoul eine schwere Geburt und sich nie mehr davon erholt. Andererseits habe ich auch gehört, dass sie nicht unbedingt im Rollstuhl sitzen müsste, aber sie hat sich wohl irgendwann aufgegeben.“ Ratlos zuckte sie die Achseln. „Aber man kann dich nicht einfach hinauswerfen. Wo sollst du denn hin?“
Mühsam setzte Rhianna ein halbwegs überzeugendes Lächeln auf. „Ich werde nach London gehen, zu den Jessops, von denen ich dir mal erzählt habe. Bisher konnte ich mir nicht einmal leisten, sie zu besuchen. Als ich sie heute Morgen anrief, um ihnen alles zu erzählen, boten sie sofort an, mich vom Bahnhof abzuholen. Ich kann bei ihnen bleiben, bis ich Fuß gefasst habe.“
„Gott sei Dank! Trotzdem ist es unmöglich, wie meine Familie dich behandelt hat. Und dann auch noch Raoul! Wenn er schon jemanden küssen muss, warum dann nicht Janie Trevellin? Als er im letzten Jahr hier war, haben sie sich getroffen, und meine Mutter hat schon von einer Verlobung geträumt. Aber die Penvarnon-Männer sind wohl Rebellen, die sich nicht so leicht binden lassen.“ Sie lachte ohne die geringste Freude. „Melde dich bald bei mir, meine Süße! Wenn ich erst in Oxford studiere, können wir uns öfter mal sehen. Übrigens, Simon hat mir letzte Nacht gestanden, dass er es noch einmal mit uns versuchen will – und dieses Mal wirklich ernsthaft, keine unbedeutende Schwärmerei.“
„Dann hatte die letzte Nacht ja doch noch etwas Gutes“, murmelte Rhianna ausweichend. „Wenn er der Richtige ist, schnapp ihn dir, Carrie!“
„Keine Sorge, das werde ich! Und jetzt komm, ich fahre dich zum Bahnhof! Und vorher hole ich bei meiner Mutter noch deinen Lohn von letzter Nacht ab.“
„Oh nein, bitte nicht“, rief Rhianna schnell. „Ich will nichts von ihr haben.“
Doch später am Bahnhof überreichte Carrie ihrer Freundin trotzdem ein dickes Bündel Geldscheine. „Hier, das soll ich dir mit einem lieben Gruß von meinem Vater geben.“
Überrascht riss Rhianna die Augen auf. „Aber das sind ja fünfhundert Pfund! Das nehme ich nicht an.“
„Er sagt, du musst.“ Carrie legte den Kopf schief. „Es scheint, als hätte Onkel Ben deiner Mutter in seinem Testament etwas Geld hinterlassen, aber sie wollte es nicht. Im Vergleich dazu ist das hier nichts, aber Daddy sagt, er fühlt sich besser, wenn du wenigstens etwas Startkapital hast.“
„Wie lieb von ihm.“ Rhianna war den Tränen nahe. In diesem Augenblick hatte sie geglaubt, weder ihre Tante, noch Carries Eltern jemals wiederzusehen.
7. KAPITEL
Das ist nur der Stress, beruhigte Rhianna sich, als sie merkte, dass ihr Gesicht tränennass war. Die Erinnerungen waren schmerzhaft. Aber die letzten fünf Jahre waren zum Glück nicht nur anstrengend. Ganz im Gegenteil.
Die Jessops waren überaus herzlich und behandelten Rhianna,
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