Lilith Parker
dem, was sie bisher von ihm erfahren hatte, passte diese gutherzige Ader gar nicht zu ihm.
»Deine Mutter hat ihn dazu überredet«, erklärte Mildred. »Obwohl Imogen einige Jahre älter war als Cathy, waren die beiden seit frühester Kindheit miteinander befreundet. Ich sehe Imogen heute noch vor mir, wie sie damals in Bonesdale ankam: Ein verschüchtertes junges Mädchen mit zarten Gesichtszügen und leuchtend roten Haaren. Sie konnte kaum jemandem in die Augen sehen, doch wenn sie es tat, lag so eine tiefe Traurigkeit in ihnen, dass es einem das Herz zusammenzog. Man sieht es Imogen heute vielleicht nicht mehr an, aber sie war eine richtige Schönheit, hat allen Männern den Kopf verdreht. Doch Imogen war das völlig gleichgültig, für sie war nur wichtig, dem Baron zu dienen. Ich schätze, sie wollte durch ihre aufopferungsvolle Arbeit auf Nightfallcastle ihre Schuld bei ihm abtragen«, mutmaÃte Mildred. »Sie und Rebekkas Vater Thomas Hibbert, der ehemalige Butler der Nephelius-Familie, haben auch niemals geheiratet. Nach dem Tod des Barons unddem Kampf am Schattenportal machte sich Thomas aus dem Staub und seither versucht Imogen, sich und Rebekka allein durchzubringen. Sie wohnt mit ihrer Tochter in einer kleinen Hütte in der Nähe der Portalgräber, läuft im Festtagsgewand einer Banshee herum und verdient sich ihren Lebensunterhalt als Wahrsagerin.«
»Klingt nicht gerade nach einem einfachen Leben.«
Plötzlich tat es Lilith leid, dass sie Imogen als Möchtegern-Banshee bezeichnet hatte, und zu Rebekka hätte sie vielleicht auch eine Spur freundlicher sein können ⦠Nein, das jetzt auch wieder nicht, man musste es mit der Gutherzigkeit ja nicht gleich übertreiben. Rebekka war eine blöde Ziege, basta!
»Und ausgerechnet diese Familie Norwich soll ich um ihre Hilfe anbetteln?« Die Vorstellung ging ihr gehörig gegen den Strich.
»Warum denn nicht? Du musst dich schlieÃlich nicht mit ihnen anfreunden, du ziehst nur deinen Nutzen aus ihrem Wissen.«
Lilith seufzte ergeben auf. »Na schön.«
Von drauÃen erklang das lang gezogene Heulen eines Werwolfs. Auch wenn die Parker-Villa direkt neben dem Friedhof lag, auf dem die Werwölfe sich nachts ungehindert herumtreiben konnten, so überlief Lilith jedes Mal ein kalter Schauer bei diesem Geräusch. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen können.
Auch Mildred schlang fröstelnd ihre Arme um sich und Archie stieà unruhig die Luft aus. »Dieses Wochenende ist Vollmond, das macht die Biester jedes Mal unruhig. Ichwünschte nur, Scrope hätte die Friedhofswächter nicht entlassen. Angeblich haben wir dafür kein Geld und er meinte, die magischen Schutzbarrieren seien völlig ausreichend. Hoffen wir, dass er recht behält!«
Dieses Wochenende war Vollmond? Siedend heià erinnerte sich Lilith an ihr Versprechen, das sie Emma gegeben hatte ⦠Sie schielte zu ihrer Tante hinüber. Im Grunde war dies der perfekte Moment, Mildred um etwas zu bitten. »Sag mal, dürfte ich morgen vielleicht bei Emma übernachten?«
»Natürlich!«, stimmte sie sofort begeistert zu. »Etwas Ablenkung wird dir sicher guttun und mit einer Freundin die Nacht durchzuquatschen, ist immer Balsam für die Seele.«
Lilith schaffte es, eine dankbare Miene aufzusetzen, obwohl sie sofort das schlechte Gewissen packte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Tante niemals etwas von diesem nächtlichen Ausflug erfuhr. Sie hatte schlieÃlich schon erlebt, wie sauer Mildred werden konnte, wenn man sie hinterging oder ihre Regeln nicht einhielt.
»Es gibt da noch etwas, über das ich mit dir sprechen wollte«, setzte Mildred umständlich an. »Ich wollte dir anbieten, dass ich dich zu deiner Gerichtsverhandlung begleite und dir zur Seite stehe. Selbstverständlich nur, wenn du das willst. Du bist jetzt immerhin schon dreizehn Jahre alt und möchtest vielleicht nicht dauernd von mir â¦Â«
Lilith unterbrach ihre Tante, indem sie ihre Hand nahm und sie dankbar anlächelte. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommst, vielen Dank!«
Mildred erwiderte ihren Händedruck. »Wir werden das schon schaffen, Lilith! Ganz sicher.«
»Noch vier Stunden, bis es losgeht. Ich sage dir, bis dahin platze ich noch vor Aufregung!« Emma lieà sich mit einem gequälten Seufzer auf das Sofa plumpsen.
Das
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