Lockende Flammen
Verunsicherung war zum Glück schnell verflogen. Nachdem ihr Auftraggeber sein Gespräch beendet hatte, hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Sollte er denken, was er wollte, es kümmerte sie nicht.
In diesem Moment ging am Ende des Flurs eine Tür auf, und gleich darauf kam eine Frau auf sie zu. Wahrscheinlich Caterina, vermutete Leonora, und wie sich gleich darauf herausstellte, hatte sie recht. Nachdem Alessandro sie einander vorgestellt hatte, warf die Haushälterin Leonora einen Blick zu, der nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht feindselig war.
Alessandro wies Caterina auf Italienisch an, Leonora die Gästesuite zu zeigen. Obwohl Leonora jedes Wort verstand, überlegte sie, ob sie so tun sollte, als ob sie Italienisch nicht verstünde. Doch ehe sie zu einem Ergebnis gelangt war, sagte Alessandro auch schon auf Italienisch zu ihr: „Sie sprechen doch auch fließend Italienisch, oder habe ich das falsch in Erinnerung?“
Dann hatte er ihre Bewerbungen also tatsächlich gelesen und war trotzdem nicht bereit gewesen sie einzustellen? Nur ihres Geschlechts wegen? Eine solche Art der Diskriminierung hatte sie schon in der Kindheit kennengelernt, wenn ihre Brüder glaubten, sie ausschließen zu dürfen, nur weil sie ein Mädchen war. Leonora verkniff sich eine sarkastische Bemerkung und sagte direkt zu Caterina ein paar freundliche Worte in der Landessprache. Dafür erntete sie ein erfreutes Lächeln.
Fünf Minuten später schaute sie sich in der Gästesuite um. Der Palazzo war offenbar erst kürzlich restauriert worden. Die großen hohen Räume wurden durch breite Flügeltüren miteinander verbunden, die alle weit offen standen. Während der elegante Stuck an den Decken und die kunstvollen Intarsien an den Türen im Original erhalten waren, hatte man die Wände neu verputzt und in einem zarten Elfenbein gestrichen, ein warmer Ton, der sich je nach Lichteinfall veränderte. Vom Wohnraum aus konnte man durch eine Glastür auf einen schmiedeeisernen Balkon treten, unter dem ein üppig begrünter Innenhof lag. Silbergraue Dielenbretter reflektierten das Licht. Der Stilmix aus antiken und modernen Möbeln verlieh dem Raum eine wohnliche Atmosphäre und verhinderte so, dass man sich wie in einem Museum fühlte.
Durch Knopfdruck auf einer Fernbedienung ließ Caterina eine bewegliche Wand verschwinden, hinter der ein Schreibtisch mit Computer sowie ein Flachbildfernseher und ein Soundsystem zum Vorschein kamen.
„Ist gut, sí ?“, fragte Caterina erkennbar stolz auf Englisch.
„Wundervoll“, antwortete Leonora und fügte auf Italienisch hinzu: „Das ist hier wirklich eine perfekte Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, alles wohldurchdacht.“
Caterina strahlte, als ob ihr das Lob ganz persönlich gälte. „Der Palazzo gehörte früher der Familie von Alessandros Mutter, ebenso wie viele andere Gebäude in Florenz. Alessandro und seine Brüder haben das alles geerbt. Bei der Restaurierung legte man größten Wert darauf, das Alte so weit wie möglich zu erhalten, ohne auf die Bequemlichkeiten der modernen Zeit verzichten zu müssen.“
„Wie viele Geschwister sind es denn?“, erkundigte sich Leonora.
„Drei Brüder. Signor Alessandro ist der mittlere.“
Das mittlere Kind, genau wie sie selbst. Leonora runzelte die Stirn. Nicht dass sie unbedingt darauf aus gewesen wäre, Gemeinsamkeiten zwischen ihm und sich selbst zu entdecken, ganz im Gegenteil. Trotzdem konnte sie nicht die Augen davor verschließen, dass er sich als Zweitgeborener und mittlerer Bruder wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation befunden hatte wie sie selbst, nämlich in einer ständigen Verteidigungsposition. Obwohl es ihr nicht behagte, dass sie sich zumindest in einer Hinsicht plötzlich in seine Lage versetzen konnte. Weit lieber wäre ihr, wenn sie ihn weiterhin vehement ablehnen könnte, was ihr jetzt allerdings schon nicht mehr ganz so leichtfiel. Auch wenn sie selbst es als ein Mädchen zwischen zwei Jungen natürlich doppelt schwer gehabt hatte.
Oder hatte er womöglich noch verbissener um seine Stellung und um Anerkennung kämpfen müssen als sie selbst? Aber selbst wenn, was würde das ändern? Sollte sie dann vielleicht auch noch Mitleid mit ihm haben? So weit kommt’s noch, dachte sie verärgert. Wenn man nur bedachte, wie er sie behandelte … immerhin hatte er sie bedroht und erpresst …
Caterina hatte sie alleingelassen. Jetzt konnte Leonora sich frisch machen, bevor sie zum Abendessen
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